Price, Richard
Fähigkeiten manchmal
schnell und unverfälscht an die Oberfläche traten.
So hatte er sich in der Nacht zuvor in dieser Bar
gefühlt, bei >Rudy's<, und nun ließ er sich den Darryl-Adams-Fall durch
den Kopf gehen, dachte wieder an Victor Dunham, den trotzigen und merkwürdig
schwerelosen Burschen, und an seine Eingebung, dass die Brüder ein Geständnisspielchen
mit ihnen spielten. Der Fall ging ihm offensichtlich unter die Haut, und das
machte ihn vorsichtig und aufgekratzt zugleich. Er hatte immer geglaubt, dass
eines der größten Berufsrisiken für einen Detective der Mordkommission darin
bestand, einen Fall zu erwischen, der einem irgendwie an die Nieren ging; dann
konnte der Job zu einer Mission werden, und das Ganze konnte damit enden, dass
man sich auf die Sache stürzte, jahrelang deswegen mit den Zähnen knirschte,
selbst wenn sich inzwischen niemand mehr dafür interessierte, manchmal nicht
einmal mehr die Familie des Opfers.
Mazilli hatte eine solche Mission: Vor vielen Jahren
war ein zwölfjähriger schwarzer Junge bei einer sinnlosen Messerstecherei von
drei gleichaltrigen weißen Kids ermordet worden. Er wusste, wer die Täter
waren, und sie wussten, dass er es wusste, aber er konnte es nicht beweisen,
also ließ er sie rund um die Uhr überwachen. Wann immer einer von ihnen wegen
Ladendiebstahls oder Drogenbesitzes festgenommen wurde, wurde Mazilli umgehend
von den zuständigen Cops angerufen, damit dieser dem jeweiligen Burschen auf
die Pelle rücken konnte. Die Täter waren nun alle sechzehn, ein übler Haufen,
und jeder von ihnen war seitdem mindestens dreimal verhaftet worden. Aber
bisher hatte keiner den anderen verpfeifen wollen. Mazilli wusste nicht, wie
lange er noch brauchen würde, aber er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass
er einen dieser Burschen eines Tages festnageln könnte, und wenn es so weit
war, dann würde er zur Stelle sein.
Rocco hatte immer ein wenig Mitleid mit den Jungs
gehabt, denen ein Job zur Mission geworden war, doch jetzt war er sich nicht
mehr so sicher. Vielleicht war eine Mission genau das, was er brauchte, um sich
selbst zu läutern, sich durch Besessenheit zu erlösen.
Dieser Darryl-Adams-Job: Vielleicht war er dabei
weniger daran interessiert, Darryl Adams Gerechtigkeit widerfahren zu lassen
als vielmehr Victor Dunham, und Rocco stellte sich den Tag vor, in ein paar
Wochen oder Monaten, wenn die Brüder den Platz tauschen würden und stattdessen
Strike im Countyknast sitzen würde. Rocco lag da und dachte darüber nach, aus
welchem Winkel er sich nähern könnte, erfand Schlachtpläne und dachte, dass es
gar nicht so schlimm war, dass Patty ihm kein Geschenk zum Hochzeitstag gemacht
hatte - vielleicht hatte er sich gerade selber eins gemacht.
Am Mittwoch gab es einen neuen Fall, ein weißes
achtzehnjähriges Mädchen, das nackt auf dem St.-Andrew's-Friedhof gefunden worden
war, mit eingeschlagenem Gesicht und einem Taschenmesser, das ihr bis zum Heft
in die Brust gerammt worden war. Als Rocco kurz nach vier Uhr nachmittags ins
Büro kam, war Mazilli bereits in Jersey City, wo das Mädchen gewohnt hatte, und
machte mit den örtlichen Detectives die Runde, um den Freund, den besten
Freund des Freundes, den Freund der Mutter und den Onkel zu finden. Ein weggeworfener
Geschenkkarton einer Flasche Boggs Cranberryschnaps war neben der Leiche
gefunden worden, und die Tagesschicht hatte im Umkreis von fünf Blocks rund um
den Friedhof alle Schnapsläden abgeklappert in der Hoffnung, dass irgendein
Verkäufer das Opfer identifizieren konnte, ohne zu einer brauchbaren Aussage zu
kommen. Der Schnaps war wahrscheinlich in der Nacht zuvor gekauft worden, was
hieß, dass in mindestens der Hälfte der überprüften Läden andere Leute
gearbeitet hatten, als die Tagesschicht vorbeigekommen war, was hieß, dass
Rocco die Überprüfung heute Abend erneut durchführen sollte.
Rocco besah sich die beiden Fotos auf seinem Tisch, das
erste eine Nahaufnahme, die den Kopf des Mädchens zeigte. Seine Augen waren
blutunterlaufen, der Unterkiefer bläulich geschwollen. Es war letzte Nacht heiß
gewesen, und in seiner Ohrmuschel nisteten bereits Larven; es sah aus als hätte
er einen kleinen Wattebausch im Ohr. Das andere Foto, der Mutter von den
lokalen Detectives abgeschwatzt, zeigte das Mädchen auf dem Schoß seines
Freundes vor dem Hintergrund einer billigen Holzverkleidung. Es war schlank
und hatte helle Augen, blendend weiße Zähne, schwarze Locken und ein wenig
Kajal
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