Price, Richard
Publikum zu haben konnte gefährlich werden, wenn der Bursche das Gefühl
hatte, laut werden und eine Show abziehen zu müssen, aber Rocco glaubte nicht,
dass das ein Problem sein würde, weil er bei diesem ersten Mal seine Rolle als
nettester Kerl der Welt spielen würde, nur zwei Typen, die ein wenig
quatschten.
Jetzt, wo sie sich mehr oder weniger von Angesicht zu
Angesicht gegenüberstanden, wirkte Strike sogar noch kleiner; er befand sich in
Augenhöhe mit Roccos Windsorknoten. Seine unauffällige, ordentliche Kleidung
machte auf Rocco den Eindruck übertriebener Reinlichkeit.
Strike stellte sich auf Zehenspitzen, um den
Schlüsselring wieder in die Tasche zu stecken, und Rocco lächelte ihn an.
»Mannomann, noch ein Schlüssel, und du kannst 'nen
Eisenwarenladen aufmachen.«
Der Junge zuckte mit den Schultern und wartete. Er
schien nicht sonderlich nervös, wirkte eher abgelenkt und leicht irritiert.
»Ronnie.« Rocco trat ein paar Zentimeter vor und
murmelte geheimnisvoll. »Ich arbeite an dem Darryl-Adams-Fall, und, ahm, wie
geht's deinem Bruder, hält er es da drin aus?«
Der Junge warf ihm einen stirnrunzelnden Blick zu, als
blende ihn die Sonne. »Ich habe ihn noch nicht ge-gesehen.«
»Nein? Ein übler Ort, der Countyknast. Warst du schon
mal drin?«
»Nein. Ich meine, nur mal über Nacht, a-aus Versehen.«
>Ach so, ein Versehen<, dachte Rocco. »Ja, nun,
dann weißt du ja Bescheid, richtig?«
Strike gab keine Antwort, sondern blickte über Roccos
Schulter hinweg in die Ferne. Rocco gefiel das Stottern; er hoffte, dass es ein
Anzeichen von Kummer und schnellem Zusammenbruch war.
»Wie geht's deiner Mutter?«
»S-Sie, Sie wissen schon ...« Der Junge hielt inne,
blies schnell ein wenig Luft aus und zuckte mit den Schultern; seine Füße
bewegten sich, als müsse er mal pinkeln, und Rocco dachte: >Schuldig.<
»Hör mal, ich muss dir sagen, ich bin nicht allzu
glücklich darüber, wie die Dinge mit deinem Bruder stehen.« Rocco versuchte,
sich so anzuhören, als sei die ganze Angelegenheit seine Schuld. »Ich meine, er
hat gestanden, er wird dafür sitzen, daran kann man nichts ändern, aber ich
weiß nicht... ich glaube einfach nicht, dass es so passiert ist, wie er gesagt
hat. Weißt du, was er gesagt hat?«
Strike sah weg. »Woher soll ich das wissen, ich war nicht dabei.«
»Wo warst du nicht dabei?«
Der Junge sah ihn mit unverhohlener Verachtung an. »Als
er mit Ihnen geredet hat«, sagte er langsam, für den Fall, dass Rocco es nicht
kapierte.
»Nun, er behauptet, der Bursche habe ihn einfach so
angesprungen, es sei Notwehr gewesen.« Rocco schnalzte mit der Zunge und
seufzte. »Mal unter uns, wenn er dabei bleibt, sitzt er dreißig Jahre.
Keine noch so blöde Geschworenenbank auf der Welt kauft
ihm das ab, und das ärgert mich zu Tode, weil ich weiß, dass es so nicht gewesen
ist, und Himmel, dein Bruder reißt sich doch den Arsch auf, um über die Runden
zu kommen, verstehst du?«
Der Bursche presste die Lippen zusammen und beäugte den
Straßenverkehr.
»Ich mein, du weißt das ja, also was zum Teufel erzähl ich dir da eigentlich? Aber ich will dich mal was fragen. Was,
glaubst du, ist passiert? Wie zum Henker ist er in diese Scheiße geschlittert,
hast du irgendeine Idee?«
»Ich weiß nicht. Er lügt nicht, Victor, also
vielleicht, na ja, vielleicht sagt e-er die Wahrheit.«
Rocco bereute seine Strategie auf der Stelle: Er hatte
Strike zu viel erzählt, hatte ihm Victors Geschichte erzählt, nur damit er ihr
zustimmte und dann den Mund hielt. >Dieser Bursche ist nicht dumm<,
dachte er, >und das Stottern wahrscheinlich chronisch. Scheiße.<
Der Blick des Jungen richtete sich auf etwas oder
jemanden entlang der Reihe geparkter Wagen, und als Rocco sich umdrehte, sah
er den berühmten Erroll Barnes mit einem braunen Papierpäckchen zwischen
Ellbogen und Rippen geklemmt an einem alten erbsengrünen LeBaron stehen.
»He, wie geht's.« Rocco reckte eine Hand nach oben.
»Lange nicht gesehen.«
Erroll blinzelte Rocco an. Die beiden waren sich nie
begegnet, aber Erroll grinste blöde und nickte Rocco abweisend zu. Rocco wollte
einfach nur, dass der Kerl ihn für einen der unzähligen Cops hielt, die ihn im
Laufe der Jahre verhaftet hatten. Der Typ sah übel aus, krank. Rocco fragte
sich, was in der Tüte war.
»Wartet er auf dich?« Rocco neigte den Kopf zur Seite.
»Nein«, sagte der Junge. »Ich weiß nicht.«
»Ich bin sowieso in einer Minute weg.«
»Ja, okay.«
Die
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