Priester des Blutes
den Wald gehen, um zu sehen, wie gut ich das Rufen der Vögel beherrschte. Er sagte zu mir, ich sollte ihn bei seinem Namen nennen, allerdings nicht bei dem hochnäsigen französischen Namen seines Vaters, sondern bei seinem bretonischen Namen, der zu jener Zeit recht verbreitet war: Kenan. Sein Vater stammte aus dem Süden und war auf dem Weg über Frankreich hierhergekommen, und seine Mutter hatte ihr gesamtes Leben im Schloss verbracht und war dort gestorben, als er noch ein Junge gewesen war. Damals
war er fortgeschickt worden, um die Wikinger entlang der Küste zu bekämpfen. Als er nach Hause zurückgekehrt war, hatte sich einiges verändert, und er gierte nicht länger nach Krieg und Abenteuer. Obwohl er mir damals alt vorkam, konnte Kenan nicht älter gewesen sein als Ende zwanzig. Dennoch schien er von einer Art Glorienschein des Alters umgeben zu sein, als habe ihm das Leben zu hart zugesetzt.
Ich führte ihn einen recht ausgetretenen Weg entlang. Als wir uns erst im dunklen Teil des Waldes befanden, wo die Dornensträucher dicht und hoch standen, band ich sein Pferd an einer der alten Eichen fest. Nachdem er abgestiegen war, nahm ich ihn an der Hand und führte ihn durch die Riesenfarne und die Wurzeln, die sich wie niedrige Hütten erhoben, durch diesen Teil des Waldes. Mitten im Gestrüpp standen die Überreste einer alten römischen Mauer. Mein Großvater hatte mir er zählt, dass dies viele Jahre zuvor, zu Lebzeiten seines Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvaters, ein militärischer Stützpunkt gewesen war, als die Römer gegen das wahre Volk des Landes gekämpft hatten. Ich zeigte ihm die Steine, die als Markierungen für die Toten dienten.
»Ist das der Ort, an dem deine Vögel sprechen?«
Ich nickte, führte meine zu einem Trichter geformten Hände zum Mund und ließ einen Pfiff und einen Lockruf entweichen, den ich so früh gelernt hatte, dass ich mich nicht einmal entsinnen konnte, woher ich ihn kannte. Innerhalb von Sekunden stieß ein Rabe aus dem dunkelgrünen Blätterdach über uns herab und ließ sich auf einem der uralten Steine nieder.
Ich streckte meinen Arm aus und schnalzte nach dem Vogel, der mir auf die Schulter flog. Es versetzte mir jedes Mal einen Ruck, wenn er auf mir landete, und ich musste erst einmal wieder festen Halt gewinnen, denn der Vogel war im Laufe des vergangenen Jahres recht groß geworden. Ich schürzte die Lippen, mein wilder Liebling legte den Kopf auf die eine Seite und dann
auf die andere, beugte sich vor und presste seinen Schnabel gegen meine Lippen.
»Sing für mich«, befahl ich.
Und da begann der Rabe das »Ave Maria« zu rezitieren, aber mit dem schlechten Akzent und der falschen Aussprache, wie ich selbst es singen würde.
Kenan brüllte vor Lachen, was meinen dunklen Freund verscheuchte. Der Vogel flog wieder auf, und obwohl ich nach ihm pfiff, war er durch die Anwesenheit dieses Fremden scheu geworden.
Ich blickte zu ihm auf.
»Und was ist mit dem Greif?«, fragte er.
»Ich habe ihn niemals gesehen«, antwortete ich. »Aber ich weiß, wo ein uralter Brunnen zu finden ist, auf dessen Grund ein Greif liegt, der unsterblich ist, dessen Flügel aber gebrochen sind.«
»Und wer hat dir das erzählt?«
»Eine Weise Frau«, sagte ich. »Ihr Name lautet Mere Morwenna. Auch wenn sie ein kleines Kind auf zieht, ist sie doch alt. Sie ist eine Freundin meiner Mutter, geht gekrümmt und humpelt, und in ihrem Gesicht hat sie einige Pocken, so dass sie tief im Wald lebt, um ihre Seuche nicht zu verbreiten. Ihr Kind ist schrecklich verunstaltet. Dennoch verfügt sie über Weisheit, sagt meine Mutter. «
»Sie leidet an einer Seuche, ist aber dennoch alt geworden?«
Ich nickte. »Ich habe ihr Gesicht nie gesehen, weil sie es hinter einem Schleier versteckt. Aber einmal kam sie in unser Haus und verabreichte meiner Mutter Blätter und Rinde der Birke, um ihr zu helfen, die Geburt meiner kleinen Schwester besser zu ertragen. Damals erzählte sie mir von dem Wesen in dem Brunnen. Sie hat mir eingeschärft, den Brunnen niemals zu besuchen, aber ich bin doch ein- oder zwei mal mittags hingegangen und habe gehört, wie der Greif schrie. Ein furchtbar trauriger Klang.« Dieser
letzte Teil war mehr oder weniger eine Lüge, denn obwohl ich bereits in der Nähe des Ortes gewesen war, hatte ich in Wirklichkeit noch nie irgendetwas aus dem Brunnen selbst gehört. Aber die Lüge ließ sein Gesicht sehr hübsch aufleuchten und ein kleines Licht in seinen Augen aufblitzen.
»Und wenn du
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