Priester des Blutes
Mutter hörte, dass ich ihn erwähnte, verbot sie mir, davon zu
sprechen. Sie sagte mir, der Brunnen stamme von einem anderen Volk. Dass er in alter Zeit gebaut sei, in einer Zeit, als noch nicht einmal die Kirchen erbaut worden waren, und dass es keine Heilige gewesen war, die hier gemartert worden war. Aber sie wollte mir den Rest der Geschichte nicht erzählen. Doch Mere Morwenna hatte mir bereits davon berichtet, als sie mich im Wald bei der alten Ruine traf, wo ich meine Vögel abrichtete.
»Da liegt ein großer Vogel auf dem Boden des Brunnens, so groß wie ein Drache«, hatte sie gesagt. »Er verfügt über Klauen, die einen Mann in Stücke reißen können, und eine Flügelspannweite, mit der er den ganzen Nachthimmel beherrschen kann. Vor tausend Jahren stürzte er ab und brach sich die Flügel, und so liegt er nun auf dem Grunde des Brunnens.« Sie zeigte mir den Brunnen und erzählte mir, dass die heidnischen Römer dort auch die heilige Vivienne gemartert hätten. Ihre Geschichte hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und als ich meinen Großvater danach gefragt hatte, hatte er zu mir gesagt, dass, wenn er über eine solche Flügelspannweite und solche mächtige Klauen verfüge und dazu ein unsterblicher Vogel wäre, es sich dabei um einen Greif handeln müsste, denn dieser wäre das einzige Tier mit solchen Eigenschaften.
Also begann ich, als mich der Jäger und seine Gesellschaft umringten, Geschichten über Greife und große Bestien hervorzusprudeln, die noch nie ein Mensch gesehen hatte, über die wir vom Lande aber Bescheid wüssten, wie Wölfe von der Größe von Drachen und Drachen von der Größe von Bergen, und das Gift der Bäume mit den biegsamen Zweigen, die in den Schatten der großen Eichen wuchsen. Ich fühlte mich wie ein Ertrinkender, während ich sprach, als ob sich meine Zunge bald lieber entrollen, das Messer unter dem Gürtel hervorholen und sich selbst abschneiden wollte, als den wilden Geschichten zuzuhören, die ich erzählte.
Der Jäger zog seine Hand zu rück und schlug mich so hart, wie
er nur konnte, ins Gesicht. Ich ging zu Boden. Im Dreck liegend blickte ich keuchend zu ihm auf. Er beugte sich herab, packte mich, als wäre ich ein Aschesack, indem er mich unter den Achselhöhlen ergriff. Dann hob er mich in die Höhe, über seinen Kopf, während er die ganze Zeit meine Augen scharf im Blick behielt, als wollte er den Teufel der Verderbtheit fangen, der in meiner Seele herumspukte.
»Wenn du lügst«, wisperte er, »weinen die Engel. Der Teufel selbst hat noch nicht so viel gelogen, wie du es in diesen letzten kostbaren Minuten getan hast. Wirst du mir die Wahrheit erzählen, Vogeljunge? Wirst du das?« Während er sprach, schüttelte und rüttelte er mich in der Luft, und ich war voll kommen davon überzeugt, er würde mich in Kürze in die Menge werfen.
Ich spürte, dass es nur zu meinem eigenen Vorteil war, meinen Kurs zu ändern.
»Ich werde die Wahrheit sagen, Herr«, behauptete ich ernst. Während ich sprach, verschwand der Markt um uns herum aus meinem Blickfeld, die Männer hinter ihm lösten sich in Luft auf, und ich fühlte mich, als gäbe es auf der ganzen Welt nur noch den Jäger und mich. »Ich bin ein armer Knabe und habe kein Gewerbe. Weder ist mein Vater ein guter Fischer, noch fischt er nach Perlen. Meine Schwester wurde im letzten Winter krank und starb, und mein kleiner Bruder folgte ihr bald nach. Meine Mutter ist eine Dirne und schläft für Reste von Hammelfleisch und Schweinefleisch sogar mit dem Klerus, aber ich verüble es ihr nicht, da sie so viele Mäuler zu stopfen hat. Ich besitze nur ein einziges kleines Talent. Dabei handelt es sich um den Umgang mit Falken und Tauben, Herr. Die Vögel der Lüfte. Ich spreche mit ihnen auf meine eigene Art, und sie verstehen mich. Und jagen mit mir.«
»Es gnade dir Gott, wenn du jetzt wieder lügst, denn dann werde ich mehr tun, als dir bloß deine Zunge herauszuschneiden«, sagte er.
»Ich spreche wirklich mit Vögeln.«
»Und sie hören dir zu?«
Ich nickte. »Die Felsentauben und die Trauertauben. Und auch die Falken. Ich habe einen Raben das Sprechen gelehrt, indem ich seine Zunge gespalten habe, und einst habe ich einen Habicht dazu abgerichtet, Fische aus dem Fluss zu holen.« All dies entsprach der Wahrheit und war mir von meinem Großvater bereits beigebracht worden, als ich kaum sprechen konnte. Die einzige Lüge in meiner Aussage lag darin, dass die Vögel üblicherweise in den Wald
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