Prime Time
wir auf dem Gymnasium eine gute und funktionierende Gemeinschaft«, fuhr Mariana fort.
»Die Leute waren in den Musik-AGs aktiv, in den Theatergruppen und bei den Antialkoholikern. Ein paar politische Parteien waren mit ihren Jugendorganisationen in der Schule vertreten, und ein paar christliche Vereinigungen gab es auch. Doch als Michelle kam, geriet alles aus den Fugen.«
Anne Snapphane warf Mariana einen kurzen Blick zu und hielt dann wieder vergebens Ausschau nach dem grauen Schleier.
»Was meinst du damit?«, fragte sie. »Hat Michelle etwa deine heile Welt kaputtgemacht?«
»Meine Welt hat sie nie bedrohen können«, sagte Mariana im Brustton der Überzeugung. »Aber es gab viele andere, deren Glaube nicht so stark war.«
Anne seufzte laut und streckte sich, um durch die Glasscheibe sehen zu können, was Karin da im Raucherzimmer machte.
»Sie kam in der Mittelstufe in unsere Parallelklasse«, sagte Mariana, und ihre Stimme hatte plötzlich einen seltsam nostalgischen Unterton. »Michelle Carlsson, die rauchte und trank und in der Sporthalle eine Disco organisierte. Soweit ich weiß, war sie in zwei Jahren mit mindestens vier verschiedenen Typen zusammen.«
Anne verdrehte die Augen.
»Komm, verschone mich«, sagte sie. »Ich will das nicht hören.« Mariana von Berlitz richtete sich auf und bekam wieder kleine Flecken auf den Wangen.
»Und warum nicht? Kannst du die Wahrheit etwa nicht vertragen? Eben war sie dir doch noch so ungeheuer wichtig.
Michelle hatte keinen Stil, keine Klasse, keine Moral. Sie lief herum und informierte die Unterstufler über Kondome und die Pille und hatte überhaupt einen unglaublich schlechten Einfluss auf den ganzen Jahrgang. Den Vereinigungen fiel es schwer, die Mitglieder zu halten, weil sie plötzlich lieber in die Disco und in die Bars und zum Eishockey gingen. Sie hat die Normen dafür, was akzeptiert und respektiert war, verändert. Ich glaube, es ist gefährlich, wenn solche Menschen so einen großen Einfluss haben.«
Anne konnte nicht länger still sitzen.
»Also echt«, sagte sie und rutschte vom Tisch, »jetzt hör doch mal auf. Sie war einfach nur ein ganz normales Mädchen, und du tust gerade so, als sei sie der Antichrist gewesen.«
Mariana blieb sitzen und reckte den Hals ein wenig.
»Ich finde, dass man gemeinsame Werte braucht, um den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern. Es ist wirklich gewissenlos, jemanden wie Michelle als Vorbild für andere hinzustellen, geradezu gefährlich.«
»Das werde ich mir keine Minute länger anhören«, sagte Anne Snapphane.
Sie beugte sich zu ihrer Tasche hinunter.
Mariana von Berlitz stand auf.
»Auch du solltest dich ganz schön in Acht nehmen«, sagte sie. »Es ist nämlich ganz und gar nicht gut für dich, Gott schlecht zu machen, wie du es oft getan hast.«
Vor Wut pochte es in Annes Kopf, und die Wirklichkeit geriet ins Wanken.
»Meinst du, Gott wird mir den Himmel auf den Kopf fallen lassen?«
Sie trat einen Schritt auf Mariana zu.
»Weißt du was«, sagte sie, »du tust mir unendlich Leid. Du bist nämlich auf einen Riesenbetrug reingefallen. Dein Gott ist eigentlich nur Jahwe, ein alter jüdischer Stammesgott.
Wusstest du, dass die Sagen erzählen, er habe früher mal in einem Vulkan gewohnt? Er war nur einer von vielen Göttern, es gab männliche und weibliche. Der einzige Unterschied ist, dass die anderen jetzt vergessen sind, genau wie der Vulkan.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Mariana und wich zurück.
»Jahwe ist Gott und Allah geworden, der allumfassende eine Gott, und zwar nur weil es den Menschen gut in den Kram passte. Alle weiblichen Götter sind verworfen worden, und schon konnte man die Frauen prima versklaven. Im Namen deines Stammesgottes haben die Männer uns die Freiheit und die Freude und die Sexualität genommen, und du gehst auch noch herum und huldigst ihm?«
»Hüte dich, was du sagst«, entgegnete Mariana von Berlitz.
Aber Anne war noch nicht fertig.
»Drohst du mir etwa? Ist das dein Ernst? Bin ich jetzt dran, bin ich die nächste gottlose Unterklassenhure, die von der Bildfläche verschwinden soll?«
Karin Bellhorn schlug die Tür zum Raucherzimmer zu und kam mit dem Handy in der Hand zu ihnen.
»Ich wollte euch nur bitten, in Zukunft zusammenzuhalten«, sagte sie.
Anne warf sich die Tasche über die Schulter und verließ ohne ein Wort die Redaktion.
Annika setzte die Füße auf den Boden, suchte ihre Sachen zusammen, sendete die Artikel in den
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