Prime Time
Wochenende nichts von sich hören lassen. Sie wusste nicht einmal, wann er nach Hause kommen würde. Das Gefühl des Scheiterns erfüllte ihren ganzen Körper, alles in ihr schrie nach menschlichen Kontakten, und die Sehnsucht nach den Kindern tat körperlich weh.
Sie stand auf und räumte die Essenssachen in den Kühlschrank. Ihr Körper war so ausgelaugt, als hätte sie hart trainiert. Mit schlafwandlerischen Bewegungen machte sie Kaffee. Plötzlich erschien Bosses Bild vor ihrem geistigen Auge, der Reporter von der Konkurrenz, sein selbstloses Wohlwollen.
Das Klingeln an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken auf.
Anne Snapphane reichte ihr die Tüte vom Bäcker und ließ sich matt und zittrig auf das Sofa sinken.
»Ich habe das Gefühl, stockbesoffen zu sein, obwohl ich keinen Tropfen getrunken habe. Es ist einfach scheußlich.«
Annika goss Kaffee in die Tassen und stellte Milch dazu.
»Wir haben im Büro eine Konferenz gehabt«, sagte Anne und reckte sich nach der Milchtüte. »Was passiert ist, hat in uns allen wirklich die schlechtesten Seiten nach oben gekehrt.«
Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa, jede mit einer Tasse in der Hand. Sie spürten die Wärme.
»War es hart?«, fragte Annika und trank ein wenig.
Anne schluckte laut.
»Mariana hatte ja schon immer so ein religiöses Hobby, aber ich habe erst heute kapiert, was für eine verdammte Fundamentalistin sie ist. Scheußlich. Der Highlander hat das Feingefühl eines Panzers, Follin ist nicht ganz dicht, und Karin versteckt sich hinter einer Mauer von Mütterlichkeit.«
»Sebastian Follin war heute in der Redaktion«, sagte Annika. »Gerade als ich gehen wollte. Ich habe aber nicht kapiert, was er eigentlich wollte.«
Anne schnaubte.
»Er wollte sich in Position bringen«, sagte sie. »Die Welt wissen lassen, dass Michelle durch ihn weiterlebt.«
Annika rührte in ihrer Tasse und sah zum Fenster hinaus.
Der graue Regen radierte alle Farben aus.
»Vielleicht hat es einer von euch getan«, sagte sie.
Anne holte Luft und seufzte.
»Warum töten die Menschen? Um weiterleben zu können?«
Annika hörte auf zu rühren.
»Macht«, sagte sie. »Die Leute töten, um auf die eine oder andere Weise Macht zu haben. Macht über einen anderen Menschen, über eine Familie. Sie töten für die Macht, die Geld oder politischen Einfluss schenkt, Macht ist zu allen Zeiten ein Mordmotiv gewesen.«
»Neid«, sagte Anne. »Missgunst. Erfahrenes Unrecht. Kain und Abel.«
»Das ist auch nur eine Art von Machtbegehren«, sagte Annika, den Blick in das Grau gerichtet. »Wenn ich es nicht kriege, sollst du es auch nicht haben. Jemanden des Lebens zu berauben ist doch die ultimative Machtübernahme. Und dann ist die Sache abgehakt.«
»Abgehakt«, sagte Anne. »Schluss mit Michelle Carlsson auf dem Bildschirm.«
»Ja«, sagte Annika, während sie wieder nach dem Löffel griff. »Ich habe Sebastian Follin gefragt, wer geschossen habe, und er meinte, dass jemand wohl einfach die Schnauze voll gehabt hat. Wer könnte das sein?«
Anne zuckte mit den Schultern.
»Alle, wenn du mich fragst.«
»Weißt du, dass sie die Neonazifrau festgenommen haben?«
»Wann?«
»Heute Morgen. Aber sie war es nicht.«
»Glaube ich auch nicht«, sagte Anne.
Sie saßen eine Weile schweigend da, und Annika merkte, wie das Koffein in ihr Ruhe und Wärme verströmte.
»Bist du bei der Gedenkfeier am Dienstag dabei?«, fragte sie. Sie legte die Füße auf den Couchtisch und drückte sich in die Kissen der Rückenlehne.
Anne Snapphane schüttelte den Kopf, trank langsam und stellte die Tasse auf ihre Handfläche.
»Wir bekommen heute Abend das beschlagnahmte Aufnahmematerial zurück. Ich muss den ganzen Scheiß noch mal durchgehen und Timecodes notieren. Eine nervtötende Arbeit, das wird Tage dauern.«
Annika schloss die Augen und rieb sich die Stirn.
»Thomas hat seit Freitag nicht ein einziges Mal angerufen.«
Anne nahm ein Teilchen und biss in Mandeln und Schokolade. »Hättest du das denn gewollt?«
»Na klar.«
»Aber du hast doch rund um die Uhr gearbeitet. Hättest du denn Zeit gehabt, mit ihm zu plauschen?«
»Sicher. Jetzt weiß ich nicht mal, wann er nach Hause kommt.«
»Das ist allerdings echt nicht in Ordnung«, sagte Anne.
»Lässt er dich zappeln, oder was?«
Annika seufzte und stellte ihre Tasse auf den Boden. »Ach was«, sagte sie. »Es ist doch meine eigene Schuld. So sauer wie am Freitag habe ich ihn noch nie erlebt.«
Anne hörte auf zu
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