Prime Time
wollte einfach gesehen werden«, sagte der Klassenlehrer. »Sie sehnte sich nach Bestätigung, und Sie wissen ja, wie das geht: Wer nicht geliebt wird, will bewundert werden, wer nicht bewundert wird, will respektiert werden, und wer nicht respektiert wird, will wenigstens gefürchtet werden.«
»Aber das ist keine Entschuldigung«, gab Annika zu bedenken. »Nein«, sagte der Lehrer, »aber vielleicht eine Erklärung.«
Die Klassenkameraden waren härter in ihren Urteilen, und die Telefongespräche waren unangenehmer. »Blass«, sagte einer, »krampfhaft auf der Suche nach Kontakt, bis hin zum Anbiedern. Allein, aber nicht gemobbt. Spielte sich auf, hatte aber niemanden hinter sich.«
»Ein bisschen blöd im Kopf«, sagte ein Junge aus ihrer Abschlussklasse.
»Grottenhässlich«, sagte eines der Mädchen.
Annika schaute sich das Klassenfoto von der Neunten an.
Es war das einzige ältere Bild von Hannah Persson, das die Redaktion hatte auftreiben können. Ein kleines Mädchen mit krummem Rücken und grinsendem Mund unter ängstlichen Augen. Sie verglich das Bild mit dem, das Bertil Strand am Tag zuvor von ihr gemacht hatte. In nur wenigen Jahren hatte das Gesicht Konturen und Charakter angenommen. Wäre das verunstaltende Hakenkreuz nicht gewesen, hätte sie direkt hübsch sein können. Der Rücken war gerade, der Blick spöttisch und durchdringend.
Irgendwo hat sie doch eine Identität gefunden, dachte Annika. Immer noch besser, als heimatlos zu sein.
Im Gymnasium Einzelunterricht, ohne Abschlusszeugnis abgegangen, dann Schriftführerin der Neonazis in Katrineholm, bei der Mutter gemeldet, aber da wohnte sie bestimmt nicht, anscheinend keinen Freund. Irgendwie hatte sie die Reproduktion eines alten Revolvers in die Hände bekommen, der in den USA gebaut worden war.
Berit, die ihre Recherchen über Neonazis im modernen Schweden beendet hatte, kam rüber und las im Laufen aus einem Fax vor:
»TV-Plus lädt zu einer Pressekonferenz und Gedenkveranstaltung für Michelle Carlsson ein, Dienstag, 26.
Juli im Konferenzraum von Zero Television. Dort wird dazu Stellung genommen, was mit den Sendungen des ›Sommerschlosses‹ geschieht und wie man das journalistische Vermächtnis von Michelle Carlsson bewahren will. Die Veranstaltung wird live in TV-Plus übertragen.«
Annika verdrehte die Augen.
»Ich habe mit der Staatsanwältin gesprochen«, sagte Berit und ließ das Blatt sinken. »Sie wird die Beschlagnahmung des Ü-Wagens und aller Dinge, die sich darin befanden, inklusive Kameras und Bänder und so weiter, aufheben.«
»Wann?«
»Heute Abend oder morgen Früh.«
»Da sollte ich vielleicht mal meinen Freund Gunnar Antonsson besuchen«, meinte Annika, und Berit nickte.
»Gehst du zu der Gedenkfeier?«
Annika reckte sich und gähnte.
»Könnte ich machen. Feierst du morgen deine Überstunden ab?«
Berit lächelte müde und gab Annika das Fax.
»Das glaubst du doch wohl nicht im Ernst? Ich fahre heute Abend nach Berlin, jetzt ist John Essex dran. Allerdings weiß ich überhaupt nicht, wie das funktionieren soll, denn die englischen Blätter haben sich inzwischen auch auf die Geschichte gestürzt, und wenn er nicht vorher schon von der Presse belagert wurde, dann jetzt ganz bestimmt.«
Annika beugte sich vor, nahm das Papier entgegen und sah ihre Kollegin zögernd an.
»Versuche es doch mit Erpressung«, sagte sie.
Berit schaute sie an.
»Ein Interview, sonst schreiben wir, wo die Mordwaffe gewesen ist. Glaubst du, er war es, der …?«
Bedrückt schweigend dachten sie an das Unaussprechliche.
»Hast du von Carl Wennergrens Bildern gehört?«, fragte Annika leise.
Berit sah sie verständnislos an.
»Wovon sprichst du?«
»Ich habe dir doch erzählt, dass Carl Wennergren im Stall nach irgendwas gesucht hat. Es war eine Kamera. Ich habe die Bilder gesehen. Michelle Carlsson und John Essex, von hinten, von vorne, von oben, von unten.«
»Und wer weiß alles von den Bildern?«, fragte Berit skeptisch und mit großen Augen.
»Keine Ahnung«, sagte Annika. »Ich glaube, nur Schyman und ich.«
Sie sahen sich an und dachten nach.
»Seine Fans sind zwölf oder etwas älter«, fuhr Annika leise fort, »also, karriereschädigend ist ein viel zu geringes Wort für das, was passieren würde, wenn die Bilder und die Informationen über den Revolver veröffentlicht würden.«
»Aber unsere Zeitung würde doch nie …«, meinte Berit.
»Das weiß er doch nicht«, sagte Annika.
Wieder Schweigen.
»Wo hat
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