Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
ignorierten, das gezückt wurde, erlebten mit einiger Wahrscheinlichkeit ihren dreißigsten Geburtstag nicht. Caroline schaute zu spät nach unten und sah gerade noch einen Jungen von vielleicht sechzehn Jahren, dem die mittleren Schneidezähne fehlten und der ihren Blick mit einem boshaften Raubtiergrinsen erwiderte. Er hatte den Stoßdegen umgedreht, sodass er auf sie gerichtet war. Das war eine unmissverständliche Drohung, aber Caroline wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, bis der Komplize des Schwanzziehers (wie Schwerträuber genannt wurden) auf sie zukam, um sich die noch wertvollere Scheide zu holen. Diese befand sich in Hüfthöhe an einem einfachen breiten Lederband, dem sogenannten Wehrgehänge, das diagonal über ihren Körper und ihre rechte Schulter führte. Der zweite Dieb war kleiner und behänder – vielleicht ein jüngerer Bruder – und seine Methode zu stehlen direkter: Er packte die Scheide mit beiden Händen und riss so fest daran, dass er sich selbst ganz vom Boden hob und Caroline damit die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten gab: seitwärts vom Pferd zu fallen oder durch das Lederband enthauptet zu werden. Jahrelanger ermüdender Reitunterricht hatte sie darin geschult, unter allen Umständen auf dem Pferd zu bleiben; sie umklammerte es mit den Beinen, griff mit der rechten Hand nach dem Sattelrand und hielt sich verzweifelt daran fest, selbst als sie sich gefährlich nach links neigte. Der Dieb hatte einen Fuß in die Flanke des Pferdes gesetzt und lehnte sich fast horizontal zurück, während sein Gewicht ausschließlich von dem Wehrgehänge getragen wurde. Caroline blieb nichts anderes übrig, als sich mit angezogenem Kinn noch weiter zu ihm hinabzubeugen, sodass ihr das Wehrgehänge über den Kopf heruntergezogen wurde. Dabei schnitt es ihr beinahe das rechte Ohr ab. Sie griff sich seitlich an den Kopf, um zu tasten, ob es noch da war. Das war es, aber das Haar darum herum war ihr eigenes. Keine Perücke. Die lag wie ein totes Tier mitten auf der Drury Lane. Oder besser, hatte dort gelegen, bis ein Perückendieb herbeistürzte und sie sich schnappte. Der Schwanzzieher stieß einen Fluch aus und machte sich an die Verfolgung des Perückendiebs, den er mit der Waffe bedrohte; der Scheidendieb, der hart auf sein Hinterteil gefallen war, rappelte sich hoch und humpelte hinter ihnen her.
    Ganz in der Nähe rief jemand: »Es ist die Prinzessin! Es ist die Prinzessin!« Caroline drehte sich um und sah, dass es der Mann auf dem kastanienbraunen Hengst war.
    Ein anderer Reiter auf einem grauen Pferd kam von hinten auf ihn zugaloppiert; dieser Bursche hatte die Füße aus den Steigbügeln gezogen und die Stiefel in die Luft gestreckt, was ausgesprochen unschicklich aussah. Mit einer scharfen Bewegung kamen die Stiefel wieder nach unten. Das graue Pferd trottete ohne Reiter über die Drury Lane. Das kastanienbraune krümmte sich, denn sein Hinterteil trug jetzt das Gewicht eines zweiten Mannes. Es bäumte sich auf. Der hinten sitzende Mann umschlang den Reiter im Sattel, um nicht hintenüberzukippen; in einer Hand hielt er etwas Silbernes. Die andere befand sich unter dem Kinn des Reiters und zog dessen Kopf zurück. Der silberne Gegenstand fuhr quer darunter entlang, aber nicht mit einem raschen Schnitt, sondern indem er sich Ader für Ader und Sehne für Sehne durch den Hals vorarbeitete. Der Reiter kippte seitlich vornüber, wobei er einen Blutfächer aussandte, der zischend gegen die Mauer einer nahegelegenen Schänke spritzte. Der Mann hinter dem Reiter beförderte mit einem Tritt dessen Füße aus den Steigbügeln und ließ ihn kopfüber auf die Straße fallen. Dann rutschte Johann von Hacklheber in den Sattel. Er schob seinen blutigen Dolch in die Scheide, ergriff mit derselben Hand die Zügel und zog dann mit der anderen sein Rapier. Er trieb das kastanienbraune Pferd in die Drury Lane hinaus und wäre dabei um ein Haar frontal mit Carolines Grauem zusammengestoßen. Im Vorbeireiten ließ er die flache Seite der Schwertklinge mit voller Wucht auf dessen Kruppe niedersausen, worauf das Pferd mit einem Satz losstürmte, der Caroline beinahe wieder aus dem Sattel gehoben hätte. In Ermangelung von Instruktionen seiner Reiterin steuerte das Tier auf offenes Gelände zu: die breite Straße, die zum Covent Garden führte.
    Bis Caroline wieder richtig im Sattel saß und die Zügel aufgenommen hatte, war sie schon fast dort. Dann überlegte sie, dass sie gen Westen – in die falsche

Weitere Kostenlose Bücher