Prinz-Albrecht-Straße
Augen wurde zum Spiegel, der die Stationen des blutigen Abenteuers festhielt. Wieder stand die junge, blonde Frau in diesem Moment auf dem Flur des Hotels und horchte. Ein Schuß. Noch einer, noch einer … »Bumm, bumm, bumm«, kommt es aus dem Radio …
Zuerst lächelte Margot, schüttelte den Kopf.
Dann begriff sie allmählich Iras Situation. Sie fragte, bohrte und erfuhr alle Einzelheiten einer ›Geheimen Reichssache‹, ohne zu wissen, was das ist. Viele werden daran sterben, ohne es je begriffen zu haben.
Margot hob den Kopf. Ihr Gesicht war ernst. Sie ordnete die Haare wie ihre Gedanken. Warum mußte sich Ira überhaupt auf so etwas einlassen? dachte sie einen Augenblick verbittert. Dann schob sie den Vorwurf weg. »Und du glaubst«, sagte sie leise, »Stahmer weiß, daß du Formis im letzten Moment gewarnt hast?«
»Ja«, entgegnete Ira.
»Und wo ist er jetzt?«
Ira hob und senkte die Schultern wie verloren.
»Das … ist eine Chance«, fuhr Margot zögernd fort.
»Was?« fragte Ira zerstreut.
»Daß er nicht zurückkommt«, versetzte Margot hart, »daß sie ihn festnehmen und einsperren … verstehst du?«
Das Klopfen an der Tür ließ die beiden jungen Mädchen wie Verschwörerinnen auseinanderfahren. Im Rahmen erschien ein lächelnder junger Mann im dunklen Anzug.
»Wo bleibst du denn?« fragte er Margot. Jetzt erst sah er Ira und setzte hastig hinzu: »Entschuldigung … ich wußte nicht, daß du Besuch hast.«
»Das ist Georg«, stellte Margot vor.
Er ging auf Ira zu und verbeugte sich ganz artig. Georg … der Vorname traf die junge Frau wie ein Peitschenhieb. Georg, der Mann mit den Spatenhänden. Georg, der Kerl mit der Mördervisage!
Ira zwang sich mit Gewalt, den Kopf zu heben, ihm die Hand zu geben. Betroffen stellte sie fest, daß er ein sympathischer junger Mann war, wie sie zu Hunderten herumlaufen.
»Was starren Sie mich so entsetzt an?« fragte er lachend. Dann bot er ihr den Arm.
Sie gingen zu dritt nach unten. In der Wohnhalle empfing man sie begeistert. Die Platte drehte sich auf dem Grammophon. Die Melodie war weich, verträumt. Langsamer Walzer. Dreivierteltakt. Die Gesellschaft war bunt. Der Sekt gekühlt. Das Lachen echt. Einer räumte den riesigen Teppich beiseite. Ira trank das zweite Glas Sekt aus. Zuerst war ihr schwindlig, dann wurde ihr leicht. Die Angst versank im Wirbel.
Der Begleiter verbeugte sich. »Tanzen Sie?« fragte er.
Sie nickte. Sie lehnte sich leicht zurück. Ihre Augen waren halb geschlossen. Ihre Schritte schwebten über das Parkett: »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein.«
Er konnte es. Er verzögerte leicht den Schritt. Beim ersten Takt glitt sein Fuß weit nach vorn, nach der Regel des langsamen Walzers, die so wenige beherrschen. Ira spürte die feste Hand auf ihrer Schulter, und sie schmiegte sich weich an ihren Partner. Linksherum, Rechtsdrehung, Verzögerung, Wechselschritt. Sie vergaß die Zeit. Sie tanzte über ihre Angst hinweg. In den Armen Georgs.
Und ein anderer Mann namens Georg ist ein feiger Mörder … und darf nicht wiederkommen … Links, rechts, Wechselschritt …
24
Die Nacht, durch die sie sich schlugen, hatte kein Ende, der Pfad keinen Weg und die Kälte kein Erbarmen. Werner Stahmer und sein Komplize Georg stapften nebeneinander her. Schweigend. Verbissen. Zäh. Erschöpft …
Jeder Schritt stach in die verwundete Hand Stahmers. Bei jedem Tritt bohrte sich ein stumpfes Messer durch das Gelenk, wühlte sich den Arm hinauf, drehte sich in der Achselhöhle, schlängelte sich das Rückgrat hinunter und wieder herauf. Wieviel Schritte haben hundert Meter? Wie lang ist ein Kilometer? Wieviel Kilometer sind es bis zur Unendlichkeit, hinter der die deutsche Grenze liegt?
Wieder standen sie vor einer Kreuzung. Die Taschenlampe flammte auf. Kilometer-Ziffern glitzerten höhnisch. Die Straße vor ihnen war vom Schnee geräumt.
»Jetzt haben wir es leichter«, sagte Georg.
»Nein«, sagte Stahmer. Seine Stimme knirschte wie der Schnee unter dem Schuh. »Querfeldein.«
»Idiotisch«, brummte Georg.
»Bequem gehen heißt bequem verhaftet werden«, murmelte der Agent. Er humpelte los. Er achtete nicht darauf, ob ihm der andere folgte. Er watete vorwärts durch die großen Schneehaufen an den Wegrändern, mit einem weiten Satz über den ersten Graben. Dann breitete sich vor ihnen das Feld wie ein weißes Totentuch. Unter einem grauen Stahlhimmel blähte es sich zu Hügeln und zu Senken. Bergauf. Bergab. Der Schnee
Weitere Kostenlose Bücher