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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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noch Zeit, es zu verhindern. Er raste an der Zollstation Dreilinden vorbei. Er wußte nur, daß das für die Wochenschau bestimmte Kesseltreiben im Raum von Ratibor, Groß-Rauden und Rybnik angesetzt war; auf einer Wiese neben einem Wald. Und so sehr die Augen des Mannes auch die Dunkelheit durchstocherten, sie sahen nur Wiesen und Wälder. Seit einer Stunde war er unterwegs, zweimal stürzte er im Gelände. Ein Wunder, daß das Krad noch lief. Der Mann, den Gruppenführer Müller ausgeschickt hatte, blutete an der Stirn.
    Noch drei Minuten. Wo denn bloß? dachte er. Er drehte das Gas auf. Das Krad schoß vorwärts, machte Luftsprünge. Nicht stürzen, dachte der Melder, bloß nicht stürzen! Wenn ich die SD-Leute aus Bernau nicht erreiche! Wenn ich das Gemetzel nicht verhindere! Diese Idioten! Halten keine telefonische Verbindung mit Oppeln. In hundertachtzig Sekunden knallen die MGs, und dann wird die Nacht laut und belebt mit den Detonationen der Handgranaten, mit den tierischen Schreien menschlicher Zielscheiben, dann wälzt sich die ›Geheime Reichssache‹ in Blut.
    Und ich dazu, dachte der Melder.

67
    Das Ziel war ausgemacht. Die Männer lagen nebeneinander, flach an die Erde gepreßt, wie sie es bis zum Überdruß im märkischen Sand geübt hatten. Sprechverbot. Sie schwiegen verbissen, starrten vorwärts. Ziel vierhundert Meter. Selbst auf diese Entfernung waren ihre Opfer zu erkennen. Sie lagen so dicht beieinander wie eine Schafherde.
    Der Kompaniechef sah auf die Uhr und nickte. Das deutsche Kommando lag ihm auf der Zunge, erschrocken bremste er sich selbst. Er hatte polnisch zu sprechen.
    »Nasadzig bagnet«, rief er erstickt. »Seitengewehr aufpflanzen.« Das Geräusch war einheitlich.
    »Nabij-Gotow«, kam das nächste Kommando. »Durchladen.«
    Der Kompaniechef robbte sich als erster über die Wiese. Wartete, hob den Arm. Seine Männer folgten ihm, fast lautlos, unheimlich. Schatten, die sich wie Schildkröten näher wälzten. Immer näher. Unaufhaltsam. Sie hatten den Befehl, ihre Opfer im Nahkampf zu erledigen, nicht auf Distanz. Kein Risiko! Keiner durfte entkommen. Nicht ein einziger. Alle hatten zu sterben. Befehl ist Befehl, und Schnaps ist Schnaps. Schnaps hatten sie genug bekommen in den letzten Tagen. Sie lungerten untätig in einem ausgeräumten Tanzsaal herum. Und jetzt würde gleich der blutige Tanz beginnen …
    Der Anführer hörte ein Raunen hinter sich. Er drehte sich unwillig um. Ein Mann kroch auf ihn zu. Viel zu hoch. Unvorschriftsmäßig. Die Kerle auf der Wiese mußten ihn sehen. Jetzt machte der Bursche einen Satz, warf sich neben ihn auf die Erde, sprach deutsch. Deutsch!
    »Befehl von Gruppenführer Müller«, keuchte er. Er konnte nicht weitersprechen, die Luft war ihm ausgegangen. Er faßte den Kompaniechef fest am Arm. »Nicht«, röchelte er, »fällt aus … ich … ich komme aus Oppeln und such' Sie schon seit einer Stunde.«
    »Mann«, entgegnete der SD-Chef, »wer sind Sie?«
    »Tut nichts zur Sache.«
    »Zeigen Sie mir den Befehl.«
    »Ich soll ihn mündlich überbringen.«
    »Bei Ihnen piept's wohl?« versetzte der SS-Offizier.
    Sein eigenes Verbot, die deutsche Sprache zu benutzen, vergaß er. Wieder winkte er seinen Leuten in polnischen Uniformen zu. Sie robbten auf seine Höhe.
    »Es kostet Ihren Kopf«, rief der Melder aufgebracht.
    »Idiot«, entgegnete der Mann vom SD gleichgültig. Sein Verstand war nicht größer als sein Gewissen. Von den nächsten Sekunden hing es ab, ob das Leben von hundert Menschen aus taktischen Gründen kurzfristig verlängert wurde.

68
    Noch eine volle Woche lang lag der Frieden in den letzten Zügen. Soweit die Politiker guten Willens waren, umstanden sie sein Krankenlager wie hilflose Ärzte, die wußten, daß alle Transfusionen nutzlos bleiben mußten. Sieben Tage brauchte Hitler noch, um der Welt scheinheilig zu demonstrieren, daß er keinen Krieg wollte. Goebbels lieferte Schlagzeilen. Die Druckerschwärze war uniform. Nie ist vom Frieden häufiger die Rede als am Vorabend eines Krieges. Die deutschen Soldaten in den Bereitstellungen warteten auf den Befehl zum Angriff. Nachrichten jagten sich wie Kuriere. Unter feuchtem Schnurrbart geiferte Hitlers grenzenloser Haß verlogene Friedensliebe in den Äther.
    Der Spuk einer Nacht, in der beinahe vorzeitig der Zweite Weltkrieg ausgelöst worden wäre, hatte sich mit den Frühnebeln aufgelöst. Die Schatten, die aus dem Waldrand lautlos auf die Wiese gerobbt waren, verschwanden

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