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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Appellplatz. Und der Mann, der Unmenschliches ertragen hatte, vergaß, wo er war.
    Er dachte an Maria. Er sah sie vor sich, jung und traurig, ängstlich und gläubig. Er wühlte in ihren Haaren. Er küßte ihre Lippen. Ihr Atem streifte ihn. Ihr Oberkörper vibrierte. Seine Hand stand erschrocken still.
    »Was hast du?« fragte er in Gedanken.
    »Nichts«, erwiderte sie, »ich kann es nur nicht fassen, daß wir wieder zusammen sind …«
    »Ja«, antwortete Rosenstein, der Mann mit dem beherrschten, strengen Gesicht, der Mann, der alles überstanden hatte, »ein Wunder … ein echtes Wunder …«
    Mersmann, der Freund, stieß ihn in die Seite.
    Unwillig drehte sich Rosenstein nach ihm um.
    »Ich möchte bloß wissen, welche Teufelei die sich wieder ausgedacht haben«, sagte Mersmann.
    Rosenstein nickte. »Es ist vielleicht besser«, versetzte er dann müde, »daß wir es nicht wissen …«
    Seine Gedanken ließen nur widerwillig von Maria. Seine Pupillen wurden wieder klar, sein Bewußtsein wach. Er glaubte, mit dem Freund zu sprechen, da merkte er erst, daß er betete. Wie von selbst kam ihm das Gebet aus tiefem Innern, gläubig wie nie in seinem Leben.
    Da wurde er ganz ruhig und entspannt. Sie können mit mir machen, was sie wollen, dachte er, das können sie mir nicht nehmen. Niemals. Seine Hand streichelte die Erde, die ihn für immer aufnehmen sollte. Sie blieb auf einem Grasbüschel liegen, wie vorher in Gedanken auf Marias Schulter.
    In diesem Moment sah der Sturmbannführer wieder auf die Uhr. Er nickte seinen Männern zu. Es ist Zeit zu verschwinden. Die Aktion Himmler rollte heran. Mit Spaten, Handgranaten und Gewehrkolben.
    Die Wochenschau sollte der Welt vorführen, was für Schweine diese Polen waren …

63
    Eine Frage geisterte durch die Verwirrung dieser Nacht: Was war los? Keiner wußte es, jeder suchte eine Antwort. Wehrmachtskolonnen wurden hin- und hergeschoben, die ›Männer des Reichstags‹ telegrafisch wieder ausgeladen. Das Propagandaministerium wurde zurückgepfiffen, der Führungsstab der Wehrmacht im letzten Moment verständigt.
    Erst am späten Abend erfuhr man in der Prinz-Albrecht-Straße, daß aus außenpolitischen Erwägungen der Beginn des Zweiten Weltkrieges bis auf weiteres verschoben wurde. Ribbentrop war nach Moskau geflogen und verhandelte mit den Sowjets über einen Nichtangriffspakt. Die Verhandlungen standen vor einem vorläufigen Abschluß, und Hitler rechnete sich aus, daß sich nunmehr die Engländer und Franzosen aus dem Krieg heraushalten würden. Deshalb entschloß er sich, mit Polen noch einmal direkt zu ›verhandeln‹.
    Hitler und Stalin Arm in Arm: durch die freie Welt zitterte ein riesiges braun-rotes Gespenst. Die Sensationen überschlugen sich. Polen war bereits auf dem Papier zwischen Deutschland und Rußland geteilt. Die Politik hatte keinen Charakter und die Geschichte keine Vernunft.
    Kurz nach einundzwanzig Uhr dreißig hatte Heydrich erfahren, daß die bestellten ›Grenzzwischenfälle‹ von Gleiwitz und Dreilinden nicht gestartet werden durften.
    Blitzgespräch nach Oppeln.
    »Jawohl, Obergruppenführer«, schrie Gestapo-Chef Heinrich Müller in die Muschel. Er sah auf die Uhr. Seine Stirn glänzte schweißnaß.
    Verbindung mit Gleiwitz. Werner Stahmer war schon unterwegs. Nicht auszudenken, die Folgen. Aber der V-Mann im Hotelzimmer des Agenten erreichte Stahmer in letzter Sekunde. Die Marschmusik im Äther wurde nicht unterbrochen. Stahmer raste nach Oppeln, kämpfte sich fluchend an Wehrmachtskolonnen vorbei, die die Straße verstopften. Die Ortschaften brodelten wie Hexenkessel. Der Motor heulte in den unteren Gängen. Kommandos, Flüche. Irgendwo hatte ein Panzer einen Wagen umgefahren. Stahmer bremste gerade noch vor einer Gruppe aufgeregt durcheinanderlaufender Menschen. Dann stand er vor Müller.
    So hatte er den Gruppenführer noch nie gesehen.
    Müller saß die Angst im zu kurz geratenen Nacken, er rannte wie gehetzt in seinem Hauptquartier hin und her, er starrte wie hypnotisiert auf das Telefon, vom Telefon auf die Uhr. Er wagte es nicht, der Prinz-Albrecht-Straße das Fürchterliche mitzuteilen. Aber er mußte es tun.
    »Mensch, Stahmer«, sagte der oberste Folterknecht der Gestapo. Er hatte die Augen eines Irrsinnigen, die Stimme eines Gewürgten und die Hände eines Fieberkranken.
    »Ich muß es tun«, sagte er wie zu sich selbst. Er nahm den Hörer zögernd in die Hand. Stahmer betrachtete ihn angewidert. Er begriff nur, daß etwas

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