Prinz-Albrecht-Straße
saß ein Sturmbannführer der SS. Die Kolonne hielt.
»Halbkreis!« schrie der Offizier.
Die hundert Mann gruppierten sich um ihn. Vorne links standen der KZ-Häftling Rosenstein und sein Freund Mersmann. Der Waggon war von Dachau bis Oppeln gerollt. Jeden Meter der langen Strecke hatte sie die Frage begleitet: Was wird aus uns?
»Männer!« rief der Sturmbannführer. »Ich habe euch zu eröffnen, daß euch der Reichsführer SS begnadigt hat … ihr seid ab sofort keine Häftlinge mehr … ihr erhaltet die Chance, eure Verfehlungen wieder gut zu machen … unverzüglich …«
Sie schwiegen. Sie hatten fiebrige Augen. In ihren Pupillen glänzte Hoffnung, lauerte daneben die Angst. Herbert Rosenstein stand abwartend, wie in Abwehr, leicht vorgebeugt, seltsam unkonzentriert. Er dachte an die Mastkur, die er hinter sich hatte. Er dachte daran, daß man ihnen die Haare so geschnitten hatte, daß der Scheitel des KZlers nicht mehr sichtbar war. Er erinnerte sich, daß er seit vier Wochen nicht mehr geschlagen und kaum mehr angebrüllt worden war. Und er wußte aus Erfahrung, daß seine Folterknechte dann besonders teuflisch waren, wenn sie sich menschlich gaben.
»Die Polen haben das deutsche Volk herausgefordert«, dröhnte der Sturmbannführer weiter. »Der Führer läßt sich das nicht länger bieten … Wir werden zurückschlagen! Ihr seid dazu ausersehen, im Rahmen des deutschen Einmarsches nach Polen eure Pflicht zu tun … ihr seid keine Häftlinge mehr, sondern Soldaten … ihr werdet jetzt feldmarschmäßig ausgerüstet … Schlagt den Feind, wo ihr ihn trefft … zeigt euch der Großzügigkeit würdig, die euch der Reichsführer SS widerfahren läßt …!«
Der Sturmbannführer sah auf die Uhr. Eine Stunde Zeit noch. Er mußte darauf achten, rechtzeitig in Sicherheit zu kommen.
62
Drei Kilometer weiter stiegen soeben Männer in Uniform aus sorgfältig getarnten Lastwagen. Angehörige der SS, als Polen maskiert, stolz darauf, sich bewähren zu dürfen. Zu morden für Führer, Volk und Vaterland … um dann selbst ermordet zu werden. Aber das wußten sie noch nicht …
Es klappte alles reibungslos. Die hundert Männer schlüpften aus den Drillich-Anzügen in Wehrmachtsuniformen. Die Auswahl war groß. Es wurde darauf geachtet, daß die Uniformteile auch richtig saßen. Dann gab man ihnen Gewehre in die Hand.
»Schon geladen«, brummte ein Unterscharführer.
»Ich komm' nicht mehr mit …«, sagte Mersmann halblaut zu seinem Freund, »wenn sie uns schon ohne jede Ausbildung als Soldaten brauchen, dann können sie gleich einpacken mit ihrem Mistkrieg …«
»Halten Sie den Mund!« brüllte der Sturmbannführer. Dann gab er sich wieder jovial: »Schießen werdet ihr lernen … und dann, die Polen können doch gar nichts … sind doch keine Soldaten … mit denen werdet ihr fertig … so wie ihr gebaut seid …« Er sah wieder auf die Uhr, denn er wollte keine Zielscheibe sein.
Rosenstein erwischte eine Uniform mit den Rangabzeichen eines Unteroffiziers. Mersmann brachte es nur zum Obergefreiten. Als sie die Klamotten mit dem Hoheitsadler anzogen, sehnte sich jeder nach seiner Häftlingsmontur. Ein paar Männer wurden als Wache eingeteilt. Der Sturmbannführer und seine Helfer traten etwas abseits.
»Hoffentlich haut keiner ab von den Burschen«, sagte der SS-Offizier, »das wäre eine schöne Sauerei … Wir müssen noch 'ne halbe Stunde warten … paßt bloß auf die Konserven auf …« Dann legte er die hohle Hand an den Mund: »Haut euch ins Gras!« rief er den ärmsten Rekruten der deutschen Wehrmacht zu.
Die folgten willig. Sie waren gewohnt, auf Pfiffe zu reagieren. Sie konnten sich die Maßnahme nicht erklären. Aber die Hölle, in der sie seit Monaten und Jahren lebten, erläuterte niemals ihre Foltern. Eine Nacht ohne Stacheldraht! Ihre Lungen blähten sich. Ihre Augen suchten den Himmel ab. Ihr Bewußtsein begann zu träumen. Alles war besser als Dachau, suggerierte ihnen der Selbsterhaltungstrieb. Besser eine kleine Hoffnung als gar keine.
Und es ging nicht nur um sie. Jeder von ihnen hatte eine Frau, eine Mutter oder ein Kind. Jeder wollte durchkommen. Irgendwie. Jeder glaubte an eine bessere Zukunft, an einen letzten Rest Menschlichkeit oder an Gott.
Rosenstein lag auf der Erde. Er hatte sein Kinn in die Hand gestützt. Halbhohes Gras kitzelte seine Haut. Grillen zirpten. Hunde bellten. In der Nähe raschelte ein Igel oder vielleicht eine Feldmaus. Es war Erde, kein
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