Prinz-Albrecht-Straße
angewidert. Er kannte die Herren, denen er diente … Aber hinterher, in ein paar Tagen schon, mußte er sich sagen, daß für dieses Verbrechen, das sie ihm jetzt unterschoben, seine Phantasie und Logik nicht ausgereicht hätten.
Werner Stahmer vergrub sich in seinem Hotel. Das Warten war entnervend. Er wollte Sybille Knapp nicht wieder begegnen. Er mußte es diesmal auf andere Weise schaffen, ins Sendehaus zu kommen. Er legte sich einen blauen Arbeitskittel zu und tarnte sich als Elektriker. Er ging nur nachts auf die Straße, um das Mädchen nicht zufällig zu treffen. Die Zeit verging langsam und quälend. Sooft das Telefon klingelte, zuckte er zusammen.
Jetzt, dachte er zum zehnten Male.
Und dann war es nur ein Routineanruf seiner Leute, die sich nach einem bestimmten System bei ihm zu melden hatten.
Der Befehl der Prinz-Albrecht-Straße hatte Werner Stahmer in die graue Industriestadt Gleiwitz gespült. Aber sein Kopf und sein Gefühl waren in Berlin zurückgeblieben. Bei Margot. Er sah sie vor sich. Sie lächelte. Sie wendete den Kopf ab, damit er nicht sehen sollte, wie traurig sie war. Er durfte nicht bei ihr sein. Er hieß nicht einmal mehr Stahmer. In seinem Paß stand ein anderer Name. Nicht einmal seine Anzüge konnte er tragen. Sie stammten aus einem Konfektionshaus in Warschau. Keine Persönlichkeit hatte er zu sein. Sie wurden in der Prinz-Albrecht-Straße jeweils von der Stange geliefert.
Ein verwegener Gedanke setzte sich bei ihm fest, nagte, wühlte, bohrte. Margot wußte nicht, wo er war. Er durfte ihr nicht schreiben. Ein Einsatz wie alle anderen. Er hatte ihr die Hand zu geben und zu verschwinden. Und dann irgendwann wiederzukommen … oder auch nicht. Je nachdem: bis zum nächstenmal … zum letztenmal. Bis er irgendwo auf einer der dreckigen Straßen der unsichtbaren Front krepierte. Der Pakt mit dem Teufel war mit Blut geschrieben. Keiner diente der Hölle ungestraft. Ob er williges Werkzeug war oder sich widersetzen wollte. Hier gab es keine Erlösung.
Für ein paar törichte Minuten vergaß der Agent die Prinz-Albrecht-Straße und ihre Befehle. Er ging auf das Postamt und meldete ein Ferngespräch nach Berlin an. Er hatte Glück. Margot war zu Hause. »Du«, sagte sie überrascht.
»Ja«, erwiderte er. »Bitte, vergiß, woher das Gespräch kommt …«
»Schon gut«, antwortete sie.
Dann wurde es still in der Leitung. Das Schweigen machte sich breit und unheimlich.
»Schlimm …«, sagte Stahmer dann, »ganz schlimm … ich … ich möchte bei dir sein …«
»Das weiß ich doch«, versetzte das Mädchen ruhig.
Verdammt, fluchte der Agent bei sich, ich hätte sie nicht anrufen dürfen. Das ist ja viel schlimmer als alles andere. Was er dachte, konnte er nicht sagen. Und was er sagte, dachte er gar nicht. Das übliche Dilemma am Telefon: das ewige Mißverständnis zweier Menschen, die sich lieben. Der Segen der Technik und ihr Fluch.
»Komm zurück«, sagte Margot.
»Ja«, entgegnete er, »bald …«
»Heil …«, setzte das Mädchen hinzu.
»Bestimmt«, erwiderte Werner Stahmer und legte kurz darauf auf.
Gesund und heil … dröhnte es in seinem Kopf, brauste es, rumorte es, schwoll an zu einem Strom, wurde tausendfach aufgegriffen und nachgebrüllt von einer Masse, die nicht wußte, daß sie bald in Einzelschicksale zerlegt werden würde.
Heil … Heil … Heil Hitler!
69
Der Hauptsturmführer sah auf die Uhr und stand auf. »Alle mal herhören«, rief er den ›Konserven‹ zu. Das Gespräch brach sofort ab. Die ewige Frage stand still: Was wird aus uns?
»Ich habe eben erfahren«, schoß der SS-Offizier mit geölter Stimme los, »daß die Polacken möglicherweise heute nacht unter Ausnutzung der Dunkelheit die Grenze überschreiten und deutsches Reichsgebiet angreifen … Ihr seid Soldaten! Ihr habt unverzüglich zurückzuschießen! … Klar?«
»Jawohl, Herr Hauptsturmführer«, murmelten sie bange.
Sechs Tage lagen sie nun schon hier und hatten keine Ausbildung erhalten. Üppiges Essen sollte sie bei guter Laune halten. Aber jeder Bissen quoll im Mund. Ein unheimliches Gefühl …
Rosenstein war in Gedanken bei Maria. Sein Freund Mersmann stand neben ihm wie immer. Sie wußten beide, daß sie sterben mußten. Sie ahnten nur nicht, wie und wann. Und sie nahmen diese letzten Tage trotz allem dankbar an wie ein Geschenk. Wie ein paar freundliche Spätsommertage in einem grauen Herbst ohne Ende. Wie ein Lichtblick in der Düsternis. Sie lebten und
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