Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
geschehen? In allen Diktaturstaaten sind die Gerüchte die eigentlichen Nachrichtenmittel für die Massen. Heute jagten sie sich. In Berlin genauso wie in London. Die Redakteure kauten ratlos an ihren Bleistiften, und die braunen Funktionäre Großdeutschlands fragten sich bange, nach wem sie sich nunmehr ausrichten sollten. Versionen, die am Morgen noch gültig waren, fegte der Mittag hinweg. Die Partei ließ durchblicken, daß Hitlers Statthalter in Prag, Freiherr von Neurath, ein Bürgerlicher deutschnationaler Herkunft, zu schwach sei. Das Land der Tschechen, dieser historische Unruheherd, verlangte nach einer starken Hand. In der Prinz-Albrecht-Straße wußte man, daß der SS-Obergruppenführer, einst Himmlers Protege, bei seinem Chef in Ungnade sei und in letzter Zeit immer wieder den Unwillen des sich stark an die Macht drängenden Reichsleiters Bormann erregt hätte.
    Wollte man Heydrich abschieben? Wollte man nach seinem eigenen Prinzip die Macht teilen, da man ihn zu fürchten begann, da man merkte, daß der Apparat der Macht zum Selbstzweck geworden war und in den Händen eines einzigen Mannes lag, der das Zuschlagen von der Pike auf erlernt hatte?
    Heydrich selbst wertete sein neues Amt als Beförderung. Er ging in strahlender Laune durch die Räume seiner Dienststellen, klopfte Mitarbeitern auf die Schulter, sprach Anerkennungen aus, war voller Umzugspläne. Schon jetzt stand fest, daß er das Reichssicherheitshauptamt von Prag aus weiterhin fernsteuern würde.
    Kuriermaschinen vom Wellblech-Typ der Ju 52 schufen die Luftbrücke der Macht von Prag nach Berlin. Aber nicht nur der frühere Vorzugsagent Werner Stahmer stellte erleichtert fest, daß der gehaßte und gefürchtete Chef künftig weiter entfernt war.
    Heydrich lief der Ruf eines Bluthundes nach Prag voraus. Der drahtige Menschenverächter war im Ausland viel bekannter als im Machtbereich des Hakenkreuzes. In Deutschland sah man ihn gelegentlich im weißen Fechtdreß oder als Turnierreiter oder auf einem flüchtigen Schnappschuß bei einem seiner Fronteinsätze, um die er sich riß, bis sie ihm Hitler verboten hatte. Für die Alliierten aber war Heydrich schlechthin das Kennzeichen des Systems.
    Als er, ausgestattet mit Vollmachten, die den Freiherrn von Neurath als formellen Reichsprotektor zu einer Marionette machten, in Prag erschien, zogen die Tschechen und Slowaken in ihrem besetzten Land die Köpfe ein. Sie erwarteten eine Serie von Schauprozessen; Verkürzung der Lebensmittelrationen; Steigerung des Terrors; eine Art Ausnahmezustand wie in Polen; Gesetze und Verordnungen, die nur Todesstrafe oder Freispruch kannten; eine ganze Kette von Übergriffen; die Ausrottung der Juden, die Machtzunahme der Kollaborateure und die totale Versklavung. Und dann stellten sie beinahe betroffen fest, daß all dies ausblieb. Hier, in Prag, mit der Blankovollmacht zur Vernichtung ganzer Minderheiten in der Tasche, bewies Heydrich, diese hochintelligente Bestie, daß er nicht nur ein perfekter Polizist, sondern auch ein kluger Politiker war.
    Unter seiner Führung wurde das politische Klima vergleichsweise milde. Als der neue Herr im Hradschin schließlich sogar dazu überging, sich für einzelne deutsche Mißgriffe zu entschuldigen, konnten das die Tschechen kaum fassen. Hitlers verhaßtester SS-General benahm sich menschlicher als der Mann mit den weißen Handschuhen, der ›feine‹ Herr von Neurath.
    Die Rechnung ging auf: die psychologischen Folgen, auf die Heydrich gesetzt hatte, traten ein. Das Land wurde zusehends und ohne besonderen Polizei-Aufwand befriedet. Die Zahl der Überfälle auf deutsche Soldaten ging erheblich zurück. Der Haß lockerte seinen würgenden Griff. Die Widerstandsbewegung verlor im steigenden Maße Mitglieder, und zum erstenmal nicht nur durch Gefängnisse und Gestapo-Keller.
    Die Bilanz, die der Chef des RSHA und stellvertretende Protektor im Führerhauptquartier vorweisen konnte, war sensationell, und sie war ungefälscht. Sollten Himmler und Bormann tatsächlich dafür gesorgt haben, daß ihr Rivale auf das Prager Abstellgeleis geschoben wurde, so war ihre Intrige danebengegangen. Jetzt konnte der Obergruppenführer, den Adolf Hitler den ›Mann mit dem eisernen Herzen‹ nannte, einmal in neuer Weise zeigen, was in ihm steckte, und da die übrige Führungs-Elite der braunen Bewegung, von Goebbels abgesehen, bestenfalls geistiger Durchschnitt war, wurde ihm das leicht gemacht.
    Aber nicht nur Bormann, der geborene Intrigant,

Weitere Kostenlose Bücher