Prinz Charming
von der Kiste entfernt, um einen weiteren Selbstmordversuch gewaltsam zu verhindern.
Offensichtlich rang die Frau um Fassung, denn sie wischte mit dem Handrücken die Tränen von ihrem Gesicht und holte mehrmals tief Atem. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, und in ihren Augen las Taylor herzzerreißende Verzweiflung. Zuvor hatte sie nur ein einziges Mal einen so todunglücklichen Menschen gesehen. Marian, an jenem Morgen, als sie die jüngere Schwester vor Onkel Malcolms Plänen gewarnt hatte...
Hastig verdrängte Taylor diese Erinnerung. »Was um Gottes willen wollten Sie denn tun?«
»>Sein oder Nichtsein .. .<«
»Wie, bitte?« Taylor glaubte, sie hätte sich verhört.
»>Sein oder Nichtsein<«, wiederholte Victoria ungehalten. »Darüber denke ich nach.«
»Sie zitieren Shakespeare?« War die Frau geisteskrank?
Victorias Ärger über die Unterbrechung verflog so schnell, wie er gekommen war. Nun fühlte sie sich nur noch erschöpft und niedergeschlagen. »Ich fand es sehr passend, Shakespeare zu zitieren«, wisperte sie. »Einerseits will ich nicht länger sein, andererseits bringe ich nicht den Mut auf, mein Leben zu beenden. Bitte, gehen Sie weg, ich möchte allein bleiben.«
»Aber ich lasse Sie nicht allein. Sagen Sir mir doch, was ich für Sie tun kann!«
»Helfen Sie mir, über die Reling zu klettern!«
»Reden Sie nicht solchen Unsinn!« erwiderte Taylor schärfer als beabsichtigt, was sie sofort bereute. Die Frau brauchte keine Strafpredigt, sondern Beistand. »Oh, ich wollte Sie nicht anschreien. Bitte, verzeihen Sie mir. Ich glaube, Sie wollen gar nicht mehr ins Wässer springen und haben beschlossen, ihrem Leben kein Ende zu setzen. Vorhin wollte ich Sie davon abhalten, über die Reling zu steigen. Als sie auf dieser Kiste standen, jagten Sie mir einen gewaltigen Schrecken ein.« Fröstelnd rieb sie sich die Arme. »Wie heißen Sie?«
»Victoria.«
»Ein schöner Name«, bemerkte Taylor, weil ihr nichts Besseres einfiel. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Bitte, erzählen Sie mir, was Sie bedrückt. Ich würde Ihnen so gern helfen.«
Mutlos schlang Victoria die bebenden Finger ineinander. »Niemand kann mir helfen.«
»Natürlich kann ich’s nicht, wenn Sie mir Ihre Probleme nicht erklären.«
»Wenn Sie Bescheid wüßten, würden Sie mir sofort den Rücken kehren.«
»Das bezweifle ich. Vertrauen Sie mir doch!«
Victoria senkte den Kopf und begann wieder zu schluchzen. Diesen Anblick ertrug Taylor nicht. Sie trat näher und streckte eine Hand aus. »Sie müssen nur zugreifen, meine Liebe, alles Weitere erledige ich.«
Zögernd blickte Victoria auf, schien zu überlegen, und dann umfaßte sie schüchtern die dargebotene Hand. Taylor zog sie auf die Beine, umfaßte ihre Schultern und führte sie von der gefährlichen Reling weg.
Unendlich dankbar für die Güte, die ihr erwiesen wurde, warf sich Victoria schluchzend in Taylors Arme und brachte sie fast aus dem Gleichgewicht. Sie war etwa zwei Zoll größer als ihre Retterin, der es deshalb etwas schwerfiel, sie zu trösten, aber sie tätschelte ihr besänftigend den Rücken.
Nun mußte sich Victoria erst einmal ausweinen. Nach Taylors Meinung waren Tränen der erste Schritt zur Heilung eines tiefen Seelenkummers. Marian hatte niemals geweint. Vielleicht war sie nur deshalb so unglücklich geworden.
Es dauerte nicht lange, bis Victorias herzzerreißendes Schluchzen Taylors Entschluß erschütterte, kühl und sachlich zu bleiben. Bald schwammen auch ihre eigenen Augen in Tränen.
Stockend, in unzusammenhängenden Sätzen, gespickt mit Zitaten aus Shakespeares Tragödien, erzählte Victoria ihre Geschichte. Als sie beteuerte, sie habe dem Mann vertraut, ihn aufrichtig geliebt und nie bezweifelt, daß er sie heiraten würde, glaubte Taylor, die Ursache des schmerzlichen Kummers zu verstehen.
Victoria war schwanger.
»Du lieber Himmel, das ist alles?« rief Taylor erbost. »Sie bekommen ein Baby? Und ich dachte, Sie hätten irgendein abscheuliches Verbrechen begangen.«
»Es ist ja auch abscheulich«, jammerte Victoria.
»O nein! Wenn Sie den Mann ermordet hätten, der Sie belog und Ihre Unschuld ausnutzte - das wäre abscheulich gewesen ...« Taylor seufzte. »Oder vielleicht doch nicht.«
»Mein Leben ist vorbei.«
Mühsam bezwang Taylor ihren Ärger und suchte nach aufmunternden Worten. Die arme Frau hatte sicher schon genug Vorwürfe gehört. »Natürlich, das Leben, das Sie bisher geführt haben, ist vorbei. Jetzt können
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