Prinz Charming
dringen.
William Shakespeare, Hamlet
Pünktlichkeit zählte nicht zu Taylors Tugenden. Eine gute Stunde lang mußte Lucas warten, ehe sie zu ihm an Deck kam, und so fand er genug Zeit, um über die letzte Nacht nachzudenken. Was für ein Teufel hatte ihn geritten, als er zu ihr ins Bett gekrochen war, und ihn auch noch veranlaßt, sie in die Arme zu nehmen? Zum Glück war er vor ihr erwacht und lautlos aus der Kabine geschlichen.
Nun verlor er allmählich die Geduld. Aber als er unter Deck gehen wollte, um Taylor zu holen, rannte sie die Kajüttreppe herauf - sichtlich besorgt und unglaublich schön. Sie trug ein hellrosa Kleid, am hochgeschlossenen Oberteil mit weißen Knospen bestickt. Die Farbe schmeichelte ihrem Teint, und ihr Anblick entlockte Lucas einen abgrundtiefen Seufzer. Irritiert runzelte er die Stirn.
Sie lächelte ihn liebenswürdig an, und da sie dachte, ihre Verspätung wäre der Anlaß seines Ärgers, entschuldigte sie sich. Dann hielt sie vergeblich nach ihrer Freundin Ausschau. Die meisten Passagiere waren bereits von Bord gegangen, also würde Victoria wahrscheinlich am Kai beim Gepäck stehen. Taylor hatte in die Kabine der jungen Frau geschaut, aber niemanden angetroffen. »Oh, ich kann es kaum erwarten, amerikanischen Boden zu betreten«, verkündete sie.
»Kaum zum glauben«, erwiderte Lucas und bot ihr den
Arm. »Also deshalb hast du dich so beeilt ...« Nach der vergangenen Nacht hätte er es lächerlich gefunden, zur förmlichen Anrede zurückzukehren, und Taylor protestierte nicht.
Sie ignorierte seinen Sarkasmus und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Hafen. Als sie die Skyline der City betrachtete, fühlte sie sich zunächst an London erinnert, bemerkte aber sofort einen wesentlichen Unterschied. Die englische Hauptstadt wurde fast immer von grauem Dunst verhüllt, und über Boston wölbte sich ein strahlend blauer Himmel.
Während Lucas seine Frau auf den Kai und zu den Gepäckkarren führte, fand sie keine Worte, denn was sie in ihrer neuen Heimat sah und hörte, überwältigte sie beinahe. Sie versuchte zu erraten, aus welchen Ländern die verschiedenen Sprachen stammten, die ringsum erklangen. Doch sie gab dieses Spiel bald auf, denn es war zu mühsam. Am liebsten hätte sie überall gleichzeitig hingeschaut. So viel gab es zu entdecken und zu erforschen.
»Würdest du bitte zuhören, wenn ich mit dir rede, Taylo r?«
Endlich wandte sie sich zu ihrem Begleiter. »Ist das nicht wundervoll, Lucas?«
Ihre offenkundige Begeisterung amüsierte ihn. »Boston?«
»Amerika.«
Er nickte. »Das mußt du erst noch kennenIernen. Aber es wird dir gefallen, in Boston zu leben. Eine kosmopolitische Stadt, so ähnlich wie London.«
»Schon jetzt bin ich ganz hingerissen von Boston, doch ich wäre enttäuscht, wenn es hier genauso zuginge wie in Lon don.« Interessiert beobachtete sie die chaotischen Aktivitä ten im Hafen, und Lucas starrte sie selbstvergessen an. Als i hm das bewußt wurde, preßte er ärgerlich die Lippen zusammen. Verdammt, er benahm sich wie ein schmachtender Bauernjunge, und das war einzig und allein Taylors Schuld. Er bezweifelte nicht, daß sie ihn absichtlich betörte - mit ihrem verführerischen Lächeln, der provozierenden Art, wie sie den Kopf in den Nacken warf, und dem vertrauensvollen Blick ihrer magischen blauen Augen.
»Sollen wir unser Gepäck holen?« Ihre Frage unterbrach seine Gedanken, und er konzentrierte sich mit einiger Mühe auf die Pflichten, die nun erledigt werden mußten.
»Warte hier«, befahl er, »ich bin gleich wieder da.«
Sie nickte, und er eilte davon. Die Gepäckscheine in der Hand, schaute sie ihm nach.
Auf Veranlassung ihrer Großmutter hatte er Zimmer im Hamilton House am Stadtrand bestellt, einem der besten amerikanischen Hotels, etwas kleiner als das ebenso renommierte Bostoner States Hotel. Lady Esther hatte sich über beide Häuser gründlich informiert und dann entschieden, das Hamilton House sei exklusiver. Im States Hotel würden zu viele Geschäftsleute absteigen, und ihre Enkelin dürfe keinen Umgang mit so gewöhnlichen Leuten pflegen. Lucas hatte nicht widersprochen. Er würde Taylor da absetzen, wo ihre Großmutter es wünschte, ein oder zwei Nächte in der Stadt verbringen, bis die Gespräche mit den Bankern und Anwälten stattgefunden hatten, und dann nach Hause reisen.
Wenige Minuten später kehrte er zu Taylor zurück, gefolgt von einem Angestellten des Hamilton House. Sie überreichte die Gepäckscheine
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