Prinz Charming
wohlhabenden, einflußreichen Bostoner residierten.
Unentwegt gab Victoria ihre Kommentare über die Stadt ab, und Taylor nickte gelegentlich. Aber bald wurde es offensichtlich, daß sie mit ihren Gedanken woanders war. Lucas stieß sie mit dem Ellbogen an. »Woran denkst du?«
»An meine Verwandten.«
»Das habe ich vermutet.«
»Und...«
»Ja?«
Plötzlich merkte sie, wie fest sie seine Hand umklammerte, und ließ sie sofort los. »Oh, verzeih mir ...«
Ehe er auf diese lächerliche Entschuldigung reagieren konnte, schaute sie wieder aus dem Fenster. Auch Victoria schien über das Verhalten ihrer Freundin zu staunen und eine Erklärung zu erwarten, aber Taylor bemerkte nur: »Die Sonne geht schon unter.«
»Ja, in einer halben Stunde ist es dunkel«, erwiderte Lucas. »Stört dich das?«
»Ja.«
»Warum.«
»Ich wollte meine Verwandten besuchen. Nun muß ich bis morgen warten.«
»Man kann auch abends ausgehen.«
»Aber sie werden schon schlafen.«
Lucas nahm an, die Verwandtschaft wäre alt und gebrechlich. Sonst würden sie sich nicht so früh zur Ruhe begeben.
Einige Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Auf den ersten Blick war das Hamilton House eine Enttäuschung Während Lucas den Fahrer bezahlte, standen Taylor und
Victoria auf dem Gehsteig und starrten das riesige graue Granitgebäude an.
Victoria wisperte, es würde trostlos aussehen, und Taylor drückte sich noch deutlicher aus. Ohne die Stimme zu senken, verkündete sie, dieses Hotel sei häßlich wie die Sünde. Aus irgendeinem Grund fand Lucas ihr Urteil amüsant. Er empfahl ihr zwar, etwas leiser zu sprechen, aber dabei grinste er. Was sie davon halten sollte, wußte sie nicht.
Immerhin schien er seinen Ärger über Victorias Gegenwart überwunden zu haben. Er behandelte sie sehr zuvorkommend, und deshalb war Taylor keineswegs eifersüchtig. Im Gegenteil, sie freute sich. Er konnte sich tatsächlich wie ein Gentleman benehmen, wenn er es wollte.
Victoria brauchte eine halbe Ewigkeit, um ihren Hut wieder aufzusetzen, den sie in der beengten Droschke abgenommen hatte. Erst beim dritten Versuch gelang es ihr, die Satinbänder unter dem Kinn zu einer perfekten Schleife zu verknoten. Am liebsten hätte die ungeduldige Taylor selber Hand angelegt. Lucas wartete gelassen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als hätte er Zeit in Hülle und Fülle.
Endlich war Victoria fertig. Er bot ihr den Arm, führte sie ins Hotel und ließ seine Frau einfach stehen. Etwas pikiert folgte Taylor den beiden. Da ihr Mann sich um ihre Freundin kümmerte, nutzte sie die Gelegenheit, ihre neue Umgebung zu erforschen. Sie entdeckte einige kleine Läden. Am Ende des Vorraums führte eine Doppeltür in die Empfangshalle. Beim Eingang standen mehrere Männer und rauchten, die meisten in korrekten Anzügen, ein paar in Lederjacken. Einige starrten Taylor unverhohlen an, und sie fühlte sich unbehaglich. Den Kopf hoch erhoben, ging sie durch die Tür, die ihr der Portier aufhielt.
Plötzlich schien sich Lucas zu entsinnen, daß er eine
Ehefrau hatte. Er drehte sich um, nahm sie bei der Hand und zog sie an seine Seite. Wieder tauschten die beiden Freundinnen ihre Meinung über das Hotel aus. Der Eigentümer hatte offenbar beschlossen, sein Geld hauptsächlich für die Innenausstattung zu verwenden. Der Boden bestand aus weißen und schwarzen Marmorquadraten. Majestätische weiße Säulen stützten die Decke der riesigen Halle. Büffelhäute verhüllten die Sofas.
»Hast du schon bemerkt, daß hier überhaupt keine Frauen sind?« wisperte Victoria.
»Allerdings.« Taylor nickte.
»Für alleinreisende Damen gibt es einen separaten Eingang«, erklärte Lucas. »Aber da ich euch begleite, könnt ihr auf diesem Weg hereinkommen. Wartet da drüben beim Gepäck, während ich mich eintrage und ein Zimmer für Victoria buche.«
Das Gepäck war leicht zu finden, eine Pyramide aus Koffern, Taschen und Truhen im Mittelpunkt der Halle. Das rege Leben und Treiben ringsum beeindruckte Taylor sehr. Mindestens zweihundert Gentlemen kamen und gingen, andere saßen auf den Sofas und lasen Tageszeitungen, mehrere standen in großen Gruppen beieinander und redeten. In diesem Stimmengewirr konnte man sich kaum unterhalten, und Victoria mußte ihre Frage zweimal stellen, ehe Taylor sie hörte. »Wenn nun alle Zimmer besetzt sind?«
»Dann wohnst du bei mir.«
»Und dein Mann?«
»Oh, er nimmt sich sicher ein eigenes Zimmer.«
»Aber ihr seid verheiratet.«
»Ja«,
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