Prinz für die Köchin
Blick in den Speisesaal. Nicht nur war er oft halb leer, viele der Gäste wirkten verstimmt, weil sie auf ihr Essen warten mussten. Etwas, das beim Service immer wieder auftrat, stellte Imogen fest, waren Fehler bei den Bestellungen.
Und der Grund für diesen Zustand schien Monsieur Boudin selbst zu sein, er und sein merkwürdiges Verhalten, das an Selbst-sabotage grenzte. Oft verschwendete der Küchenchef kostbare Zeit damit, die Zubereitung eines Gerichts durch einen so kompetenten Mitarbeiter wie Bastien genau zu beaufsichtigen und zu kritisieren, während er eine Krise am anderen Ende der Küche unbeachtet ließ, bis es zu spät war, um einzuschreiten. Oder er beschloss plötzlich in letzter Sekunde, ein Gericht völlig anders zu servieren, wodurch die Küche in Panik geriet und die Bestellung sich verzögerte.
»Was hat er für ein Problem?«, hatte Imogen Bastien leise gefragt, nachdem sie Zeuge eines solchen Vorfalls geworden war.
»Eigentlich soll ich ja nicht darüber reden«, hatte Bastien vertraulich losgelegt, »aber Monsieur Boudin hatte in letzter Zeit ziemliches Pech. Erstens hat seine Frau Honorine ihn vor ungefähr zwei Jahren verlassen.«
»Oje. Was ist denn passiert?«
»Na ja …« Bastien seufzte. »Damals wusste niemand, warum sie abgehauen ist. Und dann hatte Monsieur Boudin letztes Jahr einen fürchterlichen Krach mit seinem Bruder Marcel. Sie waren Geschäftspartner, und Marcel hat den finanziellen Teil sehr gut gemanagt, während Boudin fürs Kreative zuständig war. Jedenfalls haben sich die beiden schon immer gestritten, aber diesmal ist es ausgeartet. Wir haben alle gehört, wie sie sich angeschrien haben. Und dann kam heraus, dass Marcel und Honorine schon seit einer ganzen Weile … du weißt schon …«
»Das ist ja schrecklich«, stieß Imogen entsetzt hervor. Man durfte nicht vergessen, dass diese ganze cinq-à-sept- Nummer nicht immer allen Beteiligten Spaß machte. »Der arme Monsieur Boudin!«
»Marcel und Honorine sind von hier weggezogen. Das hat Monsieur Boudin furchtbar in seinem Stolz verletzt. Und seither weigert er sich zuzugeben, dass er allein nicht klarkommt, dass es zu viel für ihn ist. Wir machen uns alle ziemlich Sorgen um ihn und um die Zukunft des Restaurants«, hatte Bastien geschlossen und ihr in die Augen geschaut.
Imogen hatte seinen Blick einen Moment lang mitfühlend erwidert; dann schaute sie weg, als sie sah, wie seine Züge weicher wurden, und ahnte, dass er sie gleich bitten würde, wieder mit ihr auszugehen. Sie machte sich wieder ans Lauchschnippeln und kam sich vor wie ein totaler Feigling.
15
Im Laufe der nächsten Hundespaziergänge konnte Imogen sich allmählich ein vollständigeres Bild von Faustina machen. Ihre neue Freundin, stellte Imogen fest, war eine ungewöhnliche Kombination aus praktischer und romantischer Veranlagung. Sie war in einem kleinen Dorf auf Korsika aufgewachsen. Imogen war einmal ins Fettnäpfchen getreten, indem sie Faustina als Französin bezeichnet hatte, und war scharf zurechtgewiesen worden: Faustina war Korsin und definitiv keine Französin. Obwohl Korsika eigentlich zu Frankreich gehörte, hatte Imogen einen ähnlichen Fehler begangen, als wenn sie einen Schotten zum Engländer gemacht hätte. Faustina war eindeutig durch ihren korsischen Hintergrund geprägt worden. Zum Beispiel glaubte sie an Geister.
»Die Toten kommen zu Besuch«, verkündete sie einmal. »Und man merkt es, wenn sie im Haus sind, weil ihre Schritte viel schwerer sind als die der Lebenden.«
Oft hatte Faustina daheim in der Küche gesessen und jenen unverwechselbaren Schritten im Obergeschoss gelauscht. »Ah – das ist bestimmt deine Tante Angelica, die sich ihr altes Zimmer ansehen möchte«, pflegte ihre Mutter dann zu sagen, während sie seelenruhig fortfuhr, das Abendessen zuzubereiten.
Die Toten freuten sich ihrerseits über gelegentliche Besuche der Lebenden, und als Kind hatte Faustina an Allerseelen regelmäßig mit ihrer Großmutter – einer verhutzelten Greisin, die wie alle alten Frauen des Dorfes stets von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war – auf den Gräbern verstorbener Angehöriger ein Picknick aus Leberwurst und Feigen abgehalten und ihnen Gesellschaft geleistet.
Außerdem hatte Imogen etwas über die merkwürdige Geschlechterpolitik erfahren, die ihre Freundin auf der Insel verinnerlicht hatte. Einerseits wurde von korsischen Mädchen eine glitzernde Rundum-Weiblichkeit erwartet, andererseits jedoch hatte
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