Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Prinzentod

Prinzentod

Titel: Prinzentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
Vom Netzwerk:
selbst unheimlich geworden. Mir war nicht klar, wie unglaublich gut ich lügen kann, wozu ich fähig sein kann. Manchmal, nachts, wenn die Wohnung ganz still ist und ich nicht schlafen kann, kommt es mir so vor, als ob eine völlig andere Person die alte Lissie Bernardi ersetzt hätte, jemand, den ich erst noch richtig kennenlernen muss. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie tatsächlich mag. Dann muss ich daran denken, wie oft Bernadette und ich diese billig gemachten Liebesfilmchen angesehen haben, um uns über die Heldinnen schlappzulachen, die sich mir nichts, dir nichts in den nächstbesten Typen verknallen, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne einen Funken von Verstand. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, dass ich mich jemals so verhalten würde, aber genauso ist es, mein Verstand ist wie ausgelöscht und schuld daran ist er. Sobald ich mit ihm zusammen bin, vergesse ich, dass er der Mann von Bernadettes Mutter ist, ich vergesse, dass Bernadette meine Freundin ist, vergesse, dass ich mal mit seinem Stiefsohn zusammen war, ich vergesse, dass ich Lissie heiße, und weiß nur, dass ich verrückt sein muss. Ich vergesse alles, weil ich, genau wie Kai es gesagt hat, zum ersten Mal einfach nur lebe. Wenn ich mit Kai zusammen bin, dann ist das Jetzt so intensiv, dass es nichts anderes mehr gibt. Ich vernachlässige meine Freunde, vor allem Tabea, mit der ich früher andauernd unterwegs war. Jetzt sehen wir uns nur noch in der Schule und dann überkommt mich manchmal das schlechte Gewissen, weil ich nur noch damit beschäftigt bin, im siebten Himmel zu schweben.
    Andererseits scheint es ihr nicht viel auszumachen, denn sie ruft mich auch nie an. Bernadette kann ich natürlich nicht ausweichen, schließlich wohnen wir zusammen und die Begegnungen mit ihr werden mehr und mehr zur Qual. Denn ich fühle mich oft wie beschwipst, es kribbelt überall, ständig habe ich ein Lachen auf den Lippen, am liebsten möchte ich hüpfend durch die Straßen rennen und dabei laut singen. Aber wie könnte ich ihr von diesem Glück erzählen, wenn ich doch gleichzeitig weiß, dass ich ihre Familie, die mich so großzügig aufgenommen hat, völlig zerstören würde? Deshalb gehe ich morgens als Erste aus dem Haus und nach der Schule trödele ich ewig, um nicht auf Bernadette zu treffen. Ich erfinde ständig Lügen, ich staune selbst über mich, wie gut ich das kann. Fast noch mehr Angst als vor Bernadette habe ich vor Brigitte, ihrer Mutter, die oft bei uns vorbeikommt, um mit uns Kaffee zu trinken. Aber bis jetzt habe ich es geschafft, ihr einigermaßen aus dem Weg zu gehen. Nico, dem ich ab und zu im Treppenhaus begegne, behandelt mich sowieso wie Luft. Und Violetta bekomme ich fast nie zu Gesicht, manchmal habe ich sogar den Eindruck, als ob sie gar nicht hier im Haus wohnt. Einmal ist mir sogar der Gedanke gekommen, dass sich die gesamte Familie Keilmann gegen mich verschworen hat und es mir sogar leicht macht, sie zu hintergehen, ein Gedanke, für den ich mich sofort unendlich geschämt habe, denn die Verantwortung für das, was ich tue, liegt ganz allein bei mir. Und trotz alldem bin ich glücklich. Weil ich Kai liebe. Kai ist mein Märchenprinz. Ich würde jeden Tag einen Frosch küssen, sogar einen schleimigen, wenn er sich dann in Kai verwandeln würde. Aber nicht nur das Zusammensein mit ihm ist wundervoll, nein, auch seine Mails sind die reinsten Wortküsse, die mich ganz zittrig machen. Ich kann es nie erwarten, von der Schule nach Hause zu kommen, um endlich nachzuschauen, ob er mir eine Mail geschickt hat. Genau wie heute, denn ich habe seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört und sehne mich schrecklich nach ihm. »Hey Lissie«, tönt Bernadette laut von der Dachterrasse, als ich mich gerade vom Flur in mein Zimmer schleichen will. »Ich bekomme dich ja weniger zu Gesicht als vorher. Dabei wohnst du jetzt hier. Wo steckst du eigentlich die ganze Zeit?« Ihre Stimme hat einen schmollenden Unterton. »Vorgestern Abend habe ich extra gekocht, aber du bist nicht aufgetaucht.« Mein schlechtes Gewissen rührt sich und ich beeile mich, nach draußen zu kommen. Einen Moment später bereue ich meine übereilte Reaktion. Denn nicht nur Bernadette, sondern auch Brigitte sitzt auf der Terrasse und trinkt Eistee. Die Querverstrebungen der orangefarbenen Markise sind ganz ausgefahren, denn die Sonne ist um drei Uhr nachmittags brütend heiß, unglaublich heiß für Anfang Juni. Zögernd ziehe ich mir einen Stuhl heran und

Weitere Kostenlose Bücher