Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
die Sterne und dachte an Guras Gedicht, das sie im Meer verloren hatte. Obwohl ― ganz verloren war es nicht. Immer mehr davon kam zu ihr zurück. Nacht für Nacht ― bis sie es wieder wusste:
„Nachthimmel
breitet sich über uns aus
in einer großen mütterlichen
Bewegung
so gehen wir
für einen Augenblick behütet“
Ja, sie fühlte sich behütet. Zufrieden drehte sie die schwarze Perle, die ihr Gura geschenkt hatte, zwischen den Fingern hin und her. Sie war tausendmal schöner als jede Stundenkugel.
Skaia hatte gehört, dass manche Leute die Stundenkugeln sammelten, seit sie zwar nicht mehr funktionierten, aber alle möglichen Farben angenommen hatten. Gesehen hatte Skaia aber noch niemanden, der sie als Schmuck trug. Anders war es bei den Schildchen des Komitees. Von ihrem Fenster aus hatte Skaia einmal einen Butzemann gesehen, der sein zerlumptes Gewand über und über mit dem Bekenntnis „GEGEN LUG, GEGEN TRUG“ verziert hatte und im Butzewald, aus dem die Sphinx ragte, verschwand.
Tagsüber besuchte Skaia gerne die von Bäumen umzingelte Erziehungsanstalt. Wie die anderen Kinder auch suchte sie sich aus, in welchen Unterricht sie gehen wollte. Manchmal war es Zufall, in welche Stunde sie hineingeriet, einfach weil sie einen neuen Baum ausprobieren wollte. Das Fenster, bis zu dem sie am Baum hochklettern konnte, war ihr Eingang. Und selbst wenn sie in Maschinenkunde landete, machte das nichts aus. Grund nahm den Besuch gleich zum Anlass, mit den Kindern darüber zu reden, mit welchen technischen Tricks man Höhenunterschiede leichter überwinden konnte. Genauso wie die anderen verbliebenen Erzieher legte er sich inzwischen mächtig ins Zeug, um den Kindern Interessantes zu bieten. Eines war allen klar geworden: Nur zu denen, die sich bemühten, ihren Stoff originell darzustellen, kamen Zuhörer ― nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene und sogar Kleingeister. Über Blaukappen, Nachtmahre und Butzemänner freuten sich besonders die Kreaturenkundler, denn nicht einmal in Fräulein Marthas Burgbücherei konnten sie so viel über diese Wesen erfahren wie am lebenden Beispiel. Wahrscheinlich würden sie bald selbst Bücher darüber schreiben, die Fräulein Martha dann unbedingt anschaffen musste. Falls sie zu Neuerwerbungen überhaupt kommen würde. Sie hatte ja genug zu tun, die vielen neuen Besucher mit Ausweisen zu versorgen, die Ausleihwünsche zu kontrollieren und bei Säumnis Mahnungen zu schreiben. Manchmal wirkte sie völlig aufgelöst. Aber Skaia hätte schwören können, dass sie gleichzeitig nie glücklicher ausgesehen hatte zwischen all den Lesehungrigen.
Nicht an die Erziehungsanstalt zurückgekehrt war Klirr. Der hatte sein Zimmer nach wie vor in der Burg. Nur benutzte er es nicht. Er wachte und schlief in dem Raum, von dem aus auf den Vorplatz hinunter predigen konnte.
Ein paar Zuhörer hatte er immer. Sie schienen meist fasziniert von seinen feurigen Worten, die den kühlen Verstand, ja die Überlegenheit der reinen Vernunft priesen. Doch wenn sie bemerkten, dass er zu keinem Ende finden würde, gingen sie weiter ihrer Wege.
Ob er es überhaupt bemerkte, war schwer zu sagen. Im Grunde war er nicht ansprechbar. Wenn man ihm zu essen brachte, kümmerte er sich nicht darum, sondern rief weiter aus dem Fenster hinaus, bis die Nacht hereinbrach. Dann kauerte er murmelnd in einer Ecke des Zimmers. Aber am nächsten Morgen war der Teller stets restlos leer gegessen.
Was er da in sich hineinschaufelte, stammte aus der gemeinsamen Küche von Missjö Sufflee und Aldoro und war immer mit Lilienblüten garniert. „Lilien lösen Überfüllung im Gehirn“, pflegte Aldoro zu sagen. Er hatte diesen Satz bei seinen Studien in alten Kräuterbüchern gefunden.
Eigentlich hatte er die Bände gewälzt, um die besten Würzmischungen für die verschiedensten Gerichte herauszufinden ― gerade für die weiter verfeinerten Bohnenkreationen und die Toffelgerichte wurde er rasch berühmt –, doch bald erweiterte er seine Künste auf Duftmischungen für wohlriechende Kissen. Lavendel, Kamille, Johanniskraut, so viel eignete sich, um jenen Menschen, die lieber tief schliefen, als unter dem Sternenhimmel zu lustwandeln, einen traumhaften Schlaf zu bescheren. Und die Zahl derer, die dem Adjutanten die Kissen aus den Händen rissen, wuchs beständig.
Es waren Wochen ins Land gegangen, als es sich wie ein Lauffeuer verbreitete: Die neue Oper stand kurz vor der Uraufführung. Überall kursierten
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