Prinzessin oder Erbse
Hände, um ihn zu berühren, aber er wandte sich von ihr ab. Noch am selben Abend verstieß der Prinz Annabelle aus seinem Schloss, ohne sie noch ein einziges Mal angesehen zu haben. Er verbot ihr, jemals wieder das Dorf zu betreten, und so flüchtete sie in den dunklen Wald, wo sie viele Tage und Nächte weinend umherirrte. Nach einigen Wochen begann sie, hier und da wieder eine ihrer Tränen aufzusammeln, denn vielleicht würde dieser Wald ja irgendwo einmal zu Ende sein und sie auf ein neues Dorf treffen. Dort könnte sie ihre Diamanten verkaufen, ein neues Leben anfangen und vielleicht irgendwann vergessen, dass sie einmal die Frau eines Prinzen gewesen war. Und tatsächlich, kaum hatte sie diesen Plan gefasst, da lichtete sich der Wald und sie erkannte von weitem eine Ansammlung von Häusern, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg. Schnell eilte
sie dorthin und wurde von den Dorfbewohnern freundlich aufgenommen. Man gab ihr eine winzige leerstehende Hütte am Waldesrand, um darin zu wohnen. Hier trauerte sie ihrer verlorenen Liebe hinterher und war sehr unglücklich. Dabei weinte sie Tausende von Diamanten, aus denen sie wunderschöne Ketten, Armbänder und Ohrringe herstellte, die sie an Durchreisende verkaufte. So geschah es, dass eines dieser Schmuckstücke durch einen Händler zu ihrem Ehemann gelangte. Als dieser den funkelnden Diamanten sah, da fiel eine glänzende Perle zu Boden, von der niemand sagen konnte, wo sie hergekommen war. Der Prinz wischte sich verstohlen die Augen und verlangte von dem Händler zu wissen, wo er den Schmuck gekauft habe. Sogleich machte er sich dann auf die Reise, um das Dorf, das viele Tagesmärsche entfernt von seinem Reich auf der anderen Seite des dunklen Waldes lag, zu besuchen. Auf dem Weg dorthin wiesen ihm die Diamanten, die im dichten Unterholz funkelten, den Weg. Von ihrem Fenster aus sah Annabelle eines Morgens den Prinz und sein Gefolge aus dem Wald heraus reiten, und sie versteckte ihr rotes Haar unter einem Tuch, bevor sie sich zu der Dorfgemeinschaft gesellte. »Bitte verratet mich nicht«, wisperte sie, und so kam es, dass niemand sie offenbarte, als der Prinz sich nach der Frau erkundigte, die den wunderschönen Schmuck herstellte. Doch als er enttäuscht von dannen reiten wollte, da fiel sein Blick auf Annabelle, aus deren Kopftuch sich eine Haarsträhne gelöst hatte, die nun verräterisch loderte. Und der Prinz sank vor ihr auf die Knie und seine Tränen rollten über den Boden zu ihren Füßen und da erkannte sie, dass auch er sie vermisste
und dass es ihm leidtat, sie verstoßen zu haben. So kehrte sie mit ihm auf sein Schloss zurück und sie hatten keine Geheimnisse mehr voreinander. Sie waren so glücklich, dass sie eine Menge Freudentränen vergossen, womit sie ein gutes Auskommen hatten bis an das Ende ihrer Tage.
Nachdem ich geendet habe, lese ich die Geschichte noch einmal durch, und ein Glücksgefühl steigt in mir auf. Nicht, weil ich allen Ernstes denke, dass ich mir David auf diese Weise zurück in mein Leben holen könnte. Sondern weil ich feststelle, was für eine befriedigende Wirkung das Schreiben auf mich hat. Einzutauchen in eine andere Welt, in das Leben der Figuren, das ist wie ein Urlaub von den eigenen Problemen. Wieder wandert mein Blick über die Menschen in ihren Strandkörben und bleibt an den Lohmeiers hängen. Sie trägt einen gelben Sonnenhut, so groß wie ein Wagenrad und er ein wirklich scheußliches Hawaiihemd zu grauen Shorts. Nebeneinander sitzen sie in ihrem Strandkorb und halten Händchen. Plötzlich steigen mir die Tränen in die Augen, so sehr rührt mich dieses Bild. Wie lange mögen die beiden verheiratet sein? So lange, wie ich denken kann, also dreißig Jahre, vermutlich sind es aber eher fünfzig. Ein ganzes Leben lang zusammen. Und sicher war es nicht immer einfach, und doch sitzen sie jetzt hier, Hand in Hand. Faltig und grauhaarig, er hat einen Buckel, und sie hört nicht mehr sehr gut, aber sie lieben einander. Ich male mir aus, wie es wohl war, als die beiden sich kennengelernt haben, vermutlich kurz nach den Zweiten Weltkrieg, in einer zerstörten Stadt, doch jung und voller Hoffnung. Kurz entschlossen krame
ich erneut in meiner Strandtasche herum. Wenn das Schicksal es will, werde ich ein Schreibheft finden. Stattdessen ziehe ich den Spielblock hervor, auf dem meine Eltern ihre Kniffel-Ergebnisse in Tabellen festhalten. Aber auf der Rückseite ist genug Platz. Ich atme tief durch, setze den Bleistift auf das
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