Prinzessin oder Erbse
anderen Ende der Leitung gibt Julia einen überraschten Laut von sich. Das hat sie schon seit längerem nicht mehr von mir gehört. Ich erzähle ihr von Annabelles Geschichten und lese ihr sogar ein paar Seiten aus dem kleinen Buch, das ich in meiner Handtasche mitgenommen habe, vor. Wie erwartet kann sie sich vor lauter Begeisterung kaum halten.
»Fanny, das ist ja unglaublich. Sogar David hast du dir schon als Kind herbeigewünscht.«
»So ein Quatsch.« Bei der Nennung seines Namens sinkt meine Laune schlagartig.
»Ach komm, der gut aussehende dunkelhaarige Prinz, den alle Frauen haben wollen.«
»Das könnte jeder sein. Und außerdem ist das ja wohl gründlich in die Hose gegangen, falls ich dich erinnern
darf. Von wegen, sie lebten glücklich und zufrieden. Happy Ends gibt es eben doch nur im Märchen.«
»Aber wir sind immer noch Freundinnen!«
»Stimmt. Das sind wir.«
»Vielleicht solltest du die Geschichte umschreiben«, überlegt sie laut, während ich mit dem Finger die restlichen Croissant-Krümel auf meinem Teller zusammenschiebe. »Das wäre sowieso eine gute Möglichkeit, dich wieder ein bisschen warmzuschreiben.«
»Wie meinst du das denn jetzt?«
»Na ja, ich dachte, du fährst an die Ostsee, um vielleicht wieder einen neuen Roman …«
»Nee, ich schreibe nicht mehr.«
»Okay. Wie du meinst.«
»Nanu? Diesmal kein Vortrag darüber, dass ich mein Talent verschwende?«
»Nein.«
»Und dass es ein Wink des Universums war, dass ich meinen Job verloren habe, damit ich wieder mit dem Schreiben anfange?«
»Nein.«
»Hm.«
»Es sei denn, du möchtest es gerne hören.«
»Nein, schon gut. Ich werde meine Zeit hier nutzen, um zu mir zu finden. Mal richtig ausspannen. Spazieren gehen, Rad fahren, aufs Meer gucken.«
»Klingt herrlich! Hast du was dagegen, wenn ich dich nächstes Wochenende besuchen komme?«
»Natürlich nicht.« Nach einer winzigen Pause füge ich großmütig hinzu: »Bring doch Felix mit.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Nachdem wir aufgelegt haben, bezahle
ich mein Frühstück und mache mich auf den Weg zum Strand, wo ich es mir in dem Strandkorb meiner Eltern gemütlich mache, den leise ans Ufer plätschernden Wellen zuhöre und aufs Meer hinausschaue. Nach zwei Stunden bin ich gelangweilt und überlege, mir ein Buch zu kaufen. Aber obwohl ich lange nicht mehr hier war, fürchte ich, dass der einzige Laden hier in Haffkrug auch heutzutage nur ein paar Groschenromane im Angebot hat. Daher ziehe ich noch einmal Annabelles Geschichten aus der Tasche und blättere unentschlossen in dem kleinen Buch herum. Die letzten fünf Seiten sind noch unbeschrieben. Unschlüssig kaue ich auf meiner Unterlippe herum. Vielleicht sollte ich Julias Vorschlag einfach mal befolgen. Schaden kann es ja nicht, oder? Ich beginne in meinem bunten Beutel zu kramen und finde auf seinem sandigen Boden schließlich einen Bleistift.
Und sie zogen in das prächtige Schloss des Prinzen, wo sie glücklich und zufrieden miteinander lebten. Annabelle war jetzt eine Prinzessin und alle Menschen waren freundlich zu ihr und niemand lachte mehr über ihre roten Haare. Sie war glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben und kein einziges Mal mehr weinte sie ihre diamantenen Tränen. Eines Tages spazierte sie durch das Schloss, das so groß war, dass sie es in all der Zeit, die sie nun dort lebte, noch nie vollständig durchwandert hatte. Schließlich kam sie an ein reichlich verziertes Tor. Neugierig ging sie darauf zu und drückte die Klinke herunter, die sich daraufhin knarrend öffnete und den Blick auf eine steinerne Treppe freigab, die in stockfinstere Dunkelheit zu führen
schien. Stufe für Stufe kletterte sie hinab und gelangte schließlich in einen langen, schmalen Raum. An seinem Ende flimmerte ein dämmriges Licht, in dessen Schein eine zusammengesunkene Gestalt saß und leise schluchzte. »Hallo«, rief sie leise und trat vorsichtig näher. In diesem Moment wurde der Boden unter ihren Füßen uneben und rutschig, sie ruderte mit den Armen und fiel schließlich der Länge nach hin, direkt vor die Füße der schattenhaften Gestalt. Mit schmerzenden Gliedern setzte Annabelle sich auf und betastete verwundert den Boden um sich herum, der mit Tausenden und Abertausenden perlmuttfarben schimmernden Perlen bedeckt war. Dann sah sie direkt in das geisterhaft bleiche Gesicht ihres Mannes, des Prinzen, dem eine Perle über die Wange rollte und dann mit einem sanften Pling zu Boden fiel. Sie hob die
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