Prinzessin oder Erbse
Ich weiche ihrem Blick aus.
»Ich will einfach nur allein sein. Und ich werde wahrscheinlich ein paar Wochen wegbleiben.«
»Ein paar Wochen?«
»Ja, es ist besser so.« Mich vermisst ja sowieso keiner, würde ich am liebsten theatralisch hinzufügen, aber ich verkneife es mir im letzten Moment. An Julias Gesicht kann ich ablesen, dass das Blödsinn ist. Sie wird mich vermissen. Sie versteht überhaupt nicht, warum ich plötzlich so feindselig bin. Und ehrlich gesagt verstehe ich es selber nicht.
Als ich meinen Wagen vor dem dreistöckigen, weiß gestrichenen Haus parke, in dem sich die Ferienwohnung meiner Eltern befindet, bricht schon die Dämmerung herein. Ich steige aus dem Auto und atme tief den salzigen Geruch der Ostsee ein. Als Kind habe ich meine sämtlichen Sommerferien hier in dem kleinen Ort Haffkrug verbracht, habe mit meinen Eltern Fahrradtouren unternommen, am Strand Muscheln gesammelt und abends Minigolf gespielt. Wie einfach das Leben damals noch war, denke ich melancholisch, obwohl ich vermute, dass ich meine Erinnerungen im Rückblick ziemlich verkläre. Ein Beweis dafür ist mit Sicherheit das rotweiße Tagebuch, das ich beim Packen zufällig wieder gefunden und kurzerhand eingepackt habe. Im Treppenhaus begegne ich den Lohmeiers, denen die Wohnung gegenüber gehört.
»Fanny, wie schön, Sie mal wieder zu sehen.« Ich schüttele beiden die knotige Hand. Wie alt sie geworden sind. Hatte sie schon immer so schneeweiße Haare? Und ging er damals schon so unsicher und vornübergebeugt? »Also dann, wir gehen jetzt zum Essen ins Herzberg. «
»Das gibt es noch?« Das Restaurant an der Strandallee haben wir schon vor fast dreißig Jahren besucht. Ich erinnere
mich noch wie gestern, dass ich immer das Wiener Schnitzel für Kinder gegessen habe, von dem ich jedes Mal mit größter Sorgfalt die Panade abgekratzt habe. »Guten Appetit.«
Nachdem ich mich häuslich in dem Zwei-Zimmer-Appartement eingerichtet habe, wärme ich mir eine Dose Ravioli aus der gut gefüllten Vorratskammer auf, öffne eine Flasche Rotwein und setze mich damit auf den Balkon, von dem aus man direkt aufs Meer sehen kann. Mittlerweile ist es fast dunkel, ich zünde eine Kerze an, hülle mich in eine warme Wolldecke und nehme mein altes Tagebuch zur Hand. Seite um Seite habe ich dort mit meiner schnörkeligen Kinderschrift die Abenteuer von Annabelle aufgeschrieben. Ich lese eine Geschichte nach der anderen, begleite mich selber noch einmal durch meine Kindheit. Als ich zu »Annabelles beste Freundin« komme, steigen mir die Tränen in die Augen. Ich weiß noch genau, wie Julia am ersten Tag des neuen Schuljahres zu uns in die Klasse gekommen ist, weil ihr Vater eine Arbeitsstelle in Hamburg gefunden hatte. Frau Nickel, meine Klassenlehrerin, wies ihr den Platz neben mir zu, und ich habe sie die ganze Mathestunde über angestaunt. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Kaum dass ich an jenem Nachmittag nach Hause gekommen war, schrieb ich, dass meine kleine rothaarige Heldin eine wunderschöne, dunkelhaarige Prinzessin treffen und ihre beste Freundin werden würde. Tatsächlich waren Julia und ich bald unzertrennlich. Nachdenklich lasse ich das Buch sinken und nehme einen Schluck Wein. Ich habe das dringende Bedürfnis, Julia anzurufen, nachdem ich bei meiner Abreise
so biestig zu ihr war. Außerdem muss ich ihr unbedingt diese Geschichte vorlesen. Schon jetzt höre ich ihren Kommentar dazu: »Das ist ja toll, Fanny, du hast dir unsere Freundschaft herbei geschrieben. Jetzt behaupte noch einmal, dass das Universum deine Wünsche nicht hört und erfüllt.« Ich schnappe mir mein Handy und schreibe eine SMS.
HALLO SÜSSE, ICH BIN GUT ANGEKOMMEN. TUT MIR LEID, DASS ICH SO SCHLECHT DRAUF WAR. HAB DICH LIEB! KUSS, FANNY
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, fühle ich mich gleich etwas besser und greife erneut nach meinem Buch. Um zwei Uhr lese ich schließlich die letzte Geschichte.
Annabelle und der Prinz
So vergingen die Jahre und aus dem kleinen Mädchen Annabelle wurde schließlich eine junge Frau. Sie hatte noch immer leuchtend rote Haare und Sommersprossen. Annabelle konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwann einmal ein Mann kommen und sie schön finden und heiraten würde. Dieser Gedanke machte sie sehr traurig und oft saß sie an ihrem Platz im Garten und weinte. Aber immer durchsuchte sie danach das Gras unter sich und sammelte gewissenhaft all ihre Tränen auf. Die legte sie in
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