Prisma
Aufmerksamkeit sofort auf die Stirnmitte lenkten. Er hatte viel zu lange geschlafen. Die Operation musste vorüber sein, und dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war er die ganze Nacht über bewusstlos gewesen. Zu höflich, um ihn zu wecken, warteten seine Freunde sicherlich geduldig, dass er sich erholte und sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Er rollte sich auf die Seite und stand auf, streckte sich und schaute auf Azur hinunter. Aber war das wirklich Azur?
Die Umrisse stimmten, aber andere Dinge stimmten nicht. Azur war ursprünglich tiefblau gewesen. Evan konnte sich nicht an jene Flecken aus rotem und grünem Licht erinnern, die nun die Außenhaut seines Freundes bedeckten. Noch während er hinschaute, veränderte das rote Licht sich stellenweise zu Gelb und veränderte gleichzeitig seine Intensität.
»Azur, was ist mit dir passiert?«
»Ich hab es ihnen gesagt.« Der Tonfall seines Freundes war leicht klagend. »Ich sagte ihnen, dass du sicher nicht weißt, wie du reagieren sollst.«
»Worauf reagieren?« Evan wandte sich dem Wald zu – und zuckte zusammen. Er wimmelte von winzigen krabbelnden Dingern, kleinen, intensiv gefärbten Wesen, die am Morgen vorher noch nicht dagewesen waren. Seltsame lineare Gestalten schienen aus den Rändern fraktaler Oberflächen hervorzuwachsen, Oberflächen, die vorher für ihn nicht mehr als verwaschene Schatten gewesen waren. Selbst in der Luft gab es unerwartetes Leben.
Der Kopfschmerz machte ihm Sorgen. Er legte die rechte Hand auf die Stirn. Sie berührte die Sonnenbrille nicht, jenen speziellen Augenschutz, den Azur für ihn hergestellt hatte. Und trotzdem sah er deutlich, unbehelligt vom übermächtigen Licht der Sonne Prismas oder den blendenden Reflexen der Flora. Es war so, als gäbe es überhaupt kein grelles Licht mehr.
Ein besonders dicht bewölkter Tag, sagte er sich. Aber als er den Kopf in den Nacken legte, um den Himmel zu betrachten, da war nirgendwo eine Wolke zu sehen. Eigentlich hätte er sich jetzt schon mit tränenden Augen auf dem Boden herumwälzen müssen. Statt dessen stellte er fest, dass er völlig unbehelligt blieb, ganz gleich, wohin er sah.
Er wurde sich bewusst, dass er den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildete. Die Krieger, der Bibliothekar, die Ärzte, sogar der soeben reparierte Sammler beobachteten ihn aufmerksam. Ihr Schweigen war beredter als jedes Wort.
Er schaute wieder auf Azur hinunter und fragte langsam: »Was meinst du damit: Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll?« Als er von seinem Freund keine Antwort erhielt, wanderte sein Blick zu den Ärzten weiter. »Ihr habt irgend etwas mit mir angestellt«, sagte er gepresst. »Was habt ihr mit mir getan?« Und ebenso wie Azur gaben sie keine Antwort.
Er schritt an ihnen vorbei zum Waldrand. Mehrere kleine Büsche wuchsen im Schatten größerer Gewächse. Aus der Mitte ihrer durchsichtigen Hüllen schoben sich gläserne Stengel heraus. An der Spitze eines jeden Stengels befand sich ein tellergroßes Organ, das aussah wie ein sechsseitiger Flekt. Evan brach einen Stengel ab und hielt sich die reflektierende Seite des Tellerorgans vors Gesicht.
Er war mit der foroporischen Rüstung bekleidet wie schon am Tag vorher, als er eingeschlafen war, aber von seiner Brille war nichts zu erkennen. Abgesehen von ihrem Fehlen sah alles normal aus. Es war das Gesicht von Evan Orgell, das ihn gespannt ansah, unverändert. Oder doch nicht? Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas war anders, aber er konnte es beim besten Willen nicht erkennen. Unauffällig und doch offensichtlich, übersah er es, obgleich er direkt darauf sah.
Natürlich. Evan Orgell hatte braune Augen. Das Gesicht in dem natürlichen Spiegel hatte blassviolette Augen. Das war ein Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, man hatte ihm Kontaktlinsen verpasst. Er lächelte. Ärzte schienen nie zufrieden zu sein. Sie hatten die grobe Brille Azurs durch winzige Kontaktlinsen ersetzt, die die gleiche Aufgabe weitaus wirkungsvoller erfüllten. So genau hatten sie sie seinen Augen angepasst, dass er ihr Vorhandensein nicht gespürt hatte. Er führte einen Finger behutsam an ein Auge, um eine Linse zwecks genauerer Betrachtung herauszunehmen.
Er blinzelte, als er sein Auge berührte. Da befand sich keine Linse. Die Kopfschmerzen vergingen nicht. Hinzu kam nun ein bohrender Verdacht. »Was habt ihr mit mir angestellt?« fragte er wieder, unruhiger als vorher. »Ihr habt etwas in meine Augen getan, nicht wahr? Irgendwelche Tropfen oder
Weitere Kostenlose Bücher