Privatklinik
sich hinein. Ohne Erregung, ohne Durstgefühl sah ihm Kaul zu. Seit Wochen sah er zum erstenmal wieder einen trinkenden Menschen, roch den reinen Alkohol … und er empfand keinen Drang, eher eine innere Abwehr, ein Gefühl der Übersättigung, einen Ekel. Das war merkwürdig, aber es machte ihn glücklich. Ich bin darüber hinweg, dachte er wieder. Ich bin wirklich darüber hinweg.
»Wie würden Sie die alte, tote Exzellenz nennen?« fragte Pfarrer Merckel und goß sich wieder ein. Kaul hob die Schultern.
»Ich weiß nicht. Ich kannte ihn nicht.«
»Er hat einmal eine große Schlacht gewonnen. Sie kostete hunderttausend Tote.«
»Er hat verteidigt?«
»Nein. Er war der Angreifer.«
»Dann ist er in meinen Augen ein Mörder!«
»Aber er bekam für diese Schlacht den Pour le Mérite! Für andere Schlachten bekam er das Eichenlaub zum Ritterkreuz. Und schließlich, 1960, verlieh man ihm als Aufsichtsratsvorsitzenden einer bedeutenden Firma das Bundesverdienstkreuz am Band. Und Sie sagen, er war ein Mörder! Und andere sagen: Er war ein Held! Und wieder andere sagen: Er war ein Kriegsverbrecher! Und was sage ich? Am Grab? Das ist ein Problem, mein Lieber. Prost!«
Pfarrer Merckel trank. Und, so sehr er sich dagegen wehrte, auf einmal verstand Peter Kaul den alten Bären von St. Christophorus. Er hatte einen Grund zum Trinken. Und auch das Grausamste daran erkannte Kaul: Er hatte keinen, der ihm helfen konnte. Nicht einmal Gott.
Pfarrer Merckel war allein auf der Welt mit sich und seinem Alkohol. Er trank nichts anderes als seine eigene Einsamkeit.
Viel später erst kamen sie auf den Grund von Kauls Besuch.
»Unsere Gundula, ach ja«, sagte Merckel. Er hatte die Flasche nun leergetrunken, eine neue anzubrechen, wollte er Peter Kaul nicht antun. Der Ton beim Herausziehen des Korkens ist in den Ohren jedes Trinkers wie ein Claironsignal. Auch für einen Geheilten, vor allem, wenn er die ersten Kinderschritte wieder ins Neuland der Normalen setzt. »Ich habe schon herumgehört. Da ist ein gutes Haus in der Schweiz.«
»So weit?« sagte Kaul gedehnt. Schweiz, dachte er. Tausend Kilometer. Für einen Arbeiter, der sich einen Berg von Schulden zusammengesoffen hat, ist das der Mond. Ich werde Gundula nicht mehr sehen, wenn sie einmal weg von uns ist. Muß das sein? Er legte die Hand über die Augen, und Pfarrer Merckel trank wieder, den letzten Rest in dem hohen, schmalen Glas. Da Kaul es nicht sah, fuhr seine Zungenspitze schnell hinein und leckte den letzten Tropfen vom Boden des Glases.
Exzellenz wird eine schöne Grabrede bekommen! Sünder sind wir allesamt, wird der Pfarrer Merckel sagen. Der Fleischer liest die Waage ungenau ab, der Maler nimmt billige Farbe, der Möbelhändler kalkuliert über'n breiten Daumen, der Juwelier taxiert erst seine Kunden, ehe er den Preis macht, und ein General jagt eben einige Hunderttausende in die Schlacht, um den Kampf zu gewinnen. Die Größenordnungen sind nun mal so verschieden wie die Metiers.
»Wo in der Schweiz?« fragte Kaul zögernd.
»In der Südschweiz. Im Tessin.« Pfarrer Merckel erhob sich und tappte zu seinem Schreibtisch. Dort wühlte er in einem Haufen Papiere und zog endlich ein Schreiben hervor. »Die Clinica Santa Barbara. Chefarzt Dr. Giulio Torgazzi. Er ist berühmt, lieber Peter Kaul. Sie wissen ja – heilen kann man da nichts mehr, aber man kann einen Menschen in einen bestimmten Lebenskreis einordnen. Oder soll Ihre Gundula noch mit zwanzig Jahren auf dem Rücken liegen und mit bunten Klötzchen spielen?«
»Um Gottes willen, hören Sie auf, Herr Pfarrer!« rief Kaul und drückte die Hände gegen die Ohren. »Ich könnte schreien, wenn ich daran denke.«
»Hilflose Schreie, mein Junge.« Merckel setzte sich. »Wollen wir es tun? Soll Gundi nach Santa Barbara?«
»Und … und wie lange?«
»Wer weiß das?« Merckel sah auf seinen herrlichen Betstuhl. Hinter diesem, in einer Truhe, in der man kirchliche Dokumente vermutete, versteckte er seine Flaschen. »Es können Jahre sein.«
»Und wer bezahlt das alles?«
»Die Kirche, mein Sohn.«
»Also Sie!« Kaul stand auf. »Und wenn Sie … ich meine, Herr Pfarrer … wir alle müssen einmal sterben …«
»Ich bin ein wohlhabender Mann, Peter Kaul. Ich habe zwei Tanten und einen Neffen beerbt. In meinem Testament steht, daß Gundula bis zu ihrem Eingang in Gott von mir versorgt wird.«
Es war eine Weile völlig still zwischen den beiden Männern. Dann fragte Peter Kaul hörbar:
»Und warum, Herr
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