Privatklinik
Flaschen, betrank sich und schlief wie ein Bleiklotz. In wenigen wachen Momenten hörte er nebenan, jenseits des Vorhangs, den Arbeitsrhythmus seiner Gastgeberin, einmal einen Streit um Geld, ein Kreischen und Ausdrücke, die bisher noch in keinem Wörterbuch gesammelt wurden, dann dämmerte er wieder weg und verschlief so drei Tage.
Am vierten Tag wähnte er sich sicher. Seine Gastgeberin war froh, das besoffene Luder loszuwerden und empfand doch ein wenig Mitleid mit diesem Menschen, der in seinen klaren Momenten so gebildet sprach und sich benahm wie ein besserer Herr. Den Personalausweis, den sie bei ihm fand, als sie seine Taschen untersuchte, nahm sie als gefälscht hin. Dr. Konrad Linden, dachte sie. Unmöglich! Ein Doktor kommt zwar auch hierher in meine Bude, aber so tief rutscht kein Akademiker ab.
»Mach's gut«, sagte sie deshalb zum Abschied, als Dr. Linden, diesmal nüchtern, auf der nächtlichen Gasse stand. »Kannst wiederkommen, wennste nicht weißt, wohin.«
»Danke.« Linden nickte. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, schlug den Kragen hoch und stapfte durch den Schneematsch davon. Zum Rhein. Die Dirne sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwand. Wenn er sich jetzt im Rhein ersäuft – ich kann auch nichts dafür, dachte sie. Wer kümmert sich um mich? Wir müssen uns alle durch dieses verfluchte Leben fretten.
Brigitte Linden hatte ihren Mann nach seiner Flucht aus dem Kaufhaus nicht wieder suchen lassen. Sie schämte sich nicht nur vor der Polizei, sondern sie sah ein, daß Konrad Linden immer verschwinden würde, solange die geheimnisvolle Krankheit in ihm nicht gebrochen war. Sie hatte gerade von ihm schon so viel gehört über die Psychologie der Trinker, er hatte in den Gesellschaften und auf öffentlichen Vorträgen so eindringlich davon gesprochen, daß er nun, da er selbst einer der Tausende Trinker geworden war, für sie verloren war.
Es war ein großer Entschluß, aus Köln abzureisen und nach Essen zurückzukehren. Es war der Beginn eines neuen Lebensabschnitts, der von drei Aufgaben geprägt war: die Erhaltung des bisherigen Werkes Dr. Lindens – die Klinik –, die Bewahrung von Ehrfurcht und Liebe des Kindes zu seinem Vater und die Hoffnung, daß er doch wieder einmal zurückfand oder daß sie die Möglichkeit erhielt, ihn noch einmal aus seinem Elend zu reißen.
Sie war also, während sich Dr. Linden im Zimmer der Dirne versteckt hielt, zurück nach Essen gefahren, so als sei nichts geschehen. Die Leitung der Klinik übernahm der Erste Oberarzt, die Verwaltung ging in die Hand eines befreundeten Anwalts über, offiziell wurde bekanntgegeben, daß Dr. Konrad Linden einen längeren Auslandsaufenthalt nehmen mußte, um irgendwo in Südostasien eine Klinik einzurichten.
Die Patienten glaubten es, die Kollegen zweifelten, Prof. Brosius lächelte darüber. Aber genaues wußte auch er nicht. Gewiß – die Patientin Karin von Putthausen war weggelaufen und später gestorben. So etwas ist unangenehm, aber immerhin nicht außergewöhnlich bei Patienten mit Hirnstörungen. Sie hatte keinerlei Unheil angerichtet, sondern war im elterlichen Haus gestorben. Eine gewisse Form war schon vorhanden. Das Rätsel allerdings blieb, ob Karin wirklich ein Kind bekommen hätte, wie sie behauptete, ob es nur eine hysterische Schwangerschaft gewesen war und – wenn es eine echte war – wer dann der Vater sein konnte. In diesem Fall war Brosius nach wie vor glücklich, daß mit Karins Tod dieser Komplex auch gestorben war. Man stelle sich das vor: In der Brosius-Klinik, in der Privatabteilung, im streng abgeschirmten Frauenhaus, gelingt eine Schwängerung!
Dieser schweißtreibende Gedanke veranlaßte Prof. Brosius, zur Gattin seines Widersachers zu fahren und ihr seine Hilfe anzubieten. Er tat damit gleichzeitig kund, daß er von der Version der Auslandsreise wenig, ja gar nichts hielt.
»Mein Mann wird in einigen Wochen zurückkommen«, sagte Brigitte Linden höflich und vollendet ruhig. »Ich danke Ihnen herzlich, Herr Professor. Wenn es nötig sein sollte, komme ich auf Ihr Angebot zurück.« Brosius verbeugte sich, nahm die Hacken zusammen, küßte die Hand und entfernte sich, Bewunderung im Herzen für diese starke, schöne Frau.
Das alles, diese Welt der Etikette und der lebensnotwendigen Lüge, kümmerte Dr. Linden herzlich wenig. Er hatte den Anzug der gesellschaftlichen Moral abgestreift. Er fühlte sich in seiner nackten Haut glatter und wohler, er war Natur wie der Regenwurm,
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