Privatklinik
der sich durch das feuchte Erdreich wühlt, wie die Schabe, die in der Dunkelheit aus den Kellerritzen kriecht. Gewiß, kein schöner Vergleich, vom Ästhetischen her, aber auch ein Wurm und eine Küchenschabe sind Geschöpfe Gottes. Er wanderte durch die kalte Nacht am Rhein entlang zum Hafenviertel. Am alten Zollturm lehnte er sich gegen die mit Eis überzogenen Eisenstangen des Geländers, starrte auf die schlafenden Rheinkähne im Winterquartier, sah hinter einem erleuchteten Fenster drei Männer in einer Kabine sitzen und Bier trinken, hörte einen Hund jaulen und eine einsame Stimme, irgendwo im Gewirr der alten Häuser, die »… aber der läßt mich nicht verkommen …!« grölte.
Wohin, dachte Linden, wohin bloß? Wenn er an die ›Gräfin‹ dachte, wurde ihm schlecht. Ihr faltiger, schlaffer, durch Alkohol und Morphium aufgeputschter Leib ekelte ihn an. Drei Wochen hatte sie geglaubt, die Jugend kehre zurück, die Natur mache bei ihr eine Ausnahme, sie war wie eine Flamme aus einer Asche, in der noch ein Stückchen brennen kann, wenn man kräftig hineinbläst – dann war auch dieses letzte morsche Hölzchen verglüht, sie brach zusammen und wurde eine torkelnde Greisin, bar aller Scham und Moral, bis auf ein oder zwei Tage, wo sie in einem alten, tief ausgeschnittenen Abendkleid im Bunker saß, thronend und ehrfürchtig wie die Irre von Chaillot, ein Denkmal menschlichen Verfalls. Als Dr. Linden nach der Razzia nicht wiederkehrte, unternahm sie einen Selbstmordversuch eigener Prägung. Aus einem dunklen Versteck zauberte sie fünfhundert Mark und versprach sie als Erbe denjenigen, denen es in Arbeitsgemeinschaft gelänge, sie zu Tode zu lieben. Es fand sich niemand zu dieser Tötungsart bereit, auch nicht für fünfhundert Mark, und so blieb das Leben von Jutta, der Gräfin, erhalten.
Zwischen der nächtlichen Stunde Dr. Lindens am Kölner Hafen und Jims Begräbnis auf dem Kölner Friedhof Melaten, klafft eine Lücke. Man weiß nicht, wie Dr. Linden zurück in den Bunker kam, ob man ihn am Rhein entdeckte, ob er selbst hinfand, ob er wie ein verlaufener Hund eine Spur aufnahm und ihr folgte, aus Instinkt, aus Urtrieb, und plötzlich die Kellertreppe hinabstolperte in den Bunkersaal, wo sie ihn mit Hallo begrüßten und Jutta, die Gräfin, sich die Kleider vom Leib riß und nackt herumtanzte wie ein Gespenst aus Knochen, Sehnen, Haut und Haaren … er war jedenfalls wieder unter ihnen, und sie alle, die Trinker und Penner, die Berufsbettler und Asozialen, die Heimatlosen und Weltverächter waren sich einig, daß sie von jetzt ab auf ihren Doktor besser aufpassen müßten.
Nebenan lag Jim, das Kamel, und konnte sich nicht mehr freuen. Dr. Linden untersuchte ihn, nachdem er den Putzlappen vom Gesicht geschleudert hatte. »Tot ist er«, sagte er. »Wollt ihr auch wissen, wodurch? Er hat sich totgesoffen! Er hat sein Herz einfach ertränkt …«
»Ein wahrer Bruder ging dahin!« sagte René, der Kavalier, ehrfürchtig. »Er starb in den Sielen …«
»Ich denke, in der Ecke nebenan?« entgegnete Emil, der Fisch. René maß ihn verächtlich. Die Gräfin kicherte dumm wie ein junges Mädchen, dem man den Oberschenkel kitzelt. Sie lehnte an Dr. Lindens Rücken und leckte ihm wie ein Hund über den Nacken. Er ließ es geschehen, er stand über den Toten gebeugt und sah in dessen gläserne Augen.
So werde auch ich einmal daliegen, dachte er. Auf einer Holzpritsche, einen dreckigen Putzlappen über dem Gesicht. Dr. Konrad Linden, Hirnchirurg von Weltruf. Wie klein doch die Spanne zwischen Ruhm und Ruin ist … daß beide mit einem R anfangen, sollte eigentlich eine Warnung sein. Aber niemand versteht sie. Das ist im Grund genommen das ganze Geheimnis von Aufstieg und Fall.
Da Dr. Linden keine Praxis mehr hatte, mußte man einen Arzt aus der Nachbarschaft holen, der den Totenschein für Jim, das Kamel, ausstellte. Dabei erfuhr man zum erstenmal, daß er nur einundvierzig Jahre alt geworden war. Er sah aus wie ein guter Siebziger. Entgegen der Absicht des Ordnungsamtes, Jims Leiche auf Staatskosten zu beerdigen, zumal sich keine Hinterbliebenen feststellen ließen (was eine Überstellung in die Anatomie bedeutet hätte, denn frische Leichen zum Sezieren sind wie ein Hauptgewinn in der Lotterie), legten die Penn- und Wermutbrüder zusammen und erstanden einen Sarg aus Buche, auf Eiche geritzt, eine normale Grabstelle auf Melaten, einen Pfarrer und ein Begräbnis mit Benutzung der Friedhofskapelle. Mit anderen
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