Privatklinik
selbst, wenn du es nicht kannst …« Er drehte den Kopf zur Wand und würgte wieder. »Ich will nicht mehr! Ich will einfach nicht mehr! Ich darf nicht weiterleben. Ich bin eine Gefahr für euch alle!«
So ging es vier Tage lang. Vier Tage, in denen Brigitte kaum von seinem Bett wich. Meist lag sie neben ihm, und das Gefühl, nicht allein zu sein, einen Menschen um sich zu haben, wirkte auf ihn beruhigend. Wie damals bei der ›Gräfin‹ Jutta genoß er die Gegenwart eines Körpers, der ganz ihm gehörte, aber es war wie das Trinken eines Verdurstenden, der nach wenigen Schlucken umsinkt und den plötzlichen Überfluß an Wasser nicht verträgt.
In diesen Tagen wurde das Kellergewölbe eingerichtet. Landgerichtsdirektor von Hammerfels beschwerte sich bei Diakon Weigel, nachdem er den Keller besichtigt hatte.
»Alles sieht sehr nach Vivisektionen aus!« rief er empört. »Ich mache darauf aufmerksam, daß ich Experimente an lebenden Wesen verurteile und mich nicht scheuen werde, gegen Doktor Linden und Sie, ja auch gegen Sie, Herr Diakon, Anzeige wegen Tierquälerei zu erstatten! Es ist unerhört, daß die so wohltuende Ruhe von Bornfeld durch die Schmerzensschreie unschuldiger Tiere zerstört werden soll. Ich protestiere!«
Anschließend sammelte er Unterschriften: beim Morgenkaffee ging er von Tisch zu Tisch und legte seine Denkschrift vor. Nur vier Patienten unterschrieben. Die anderen wichen aus. Abwarten, sagten sie. Trotz Stall- und Gartenarbeit ist es im Grund stinklangweilig auf Bornfeld. Dieser Dr. Linden bringt eine neue Note in das alte Gebälk. Das Leben wird wieder interessant und bunt. Resigniert steckte Dr. von Hammerfels seine Petition ein. Für ihn war das alles symptomatisch: Es gab keine geistige Einheit mehr! Der Mensch verflachte.
Am fünften Tage hatte Dr. Linden die Krise überwunden. Er erhob sich aus dem Bett, er zog sich an, rasierte sich sauber, suchte einen bunten Schlips aus und pfiff, während er den Windsorknoten schlang.
Seit zwei Tagen war draußen der Schnee geschmolzen. Das weite Heideland sah wie überflutet aus, die Felder waren Sümpfe, die Birkengruppen und Wacholderbüsche schwammen wie Inseln in der Nässe. Der Gutsverwalter hatte gerade ›Oberon‹ auf den Hof geführt und ging mit ihm im Kreis herum. Er hatte ihn an der Trense gepackt und redete beruhigend auf das nervös tänzelnde Tier ein.
»Was wäre ich ohne dich, Gitte?« sagte Dr. Linden leise. Er drehte sich um und sah seine Frau an. Sie lag noch im Bett. »Woher nimmst du eigentlich die Kraft, mit mir zu leben?«
»Ich liebe dich«, sagte sie ruhig. »Das ist alles.«
»Und wenn ich dir sage, warum ich damals weggelaufen bin?«
»Ich weiß es.«
»Du hast nie darüber gesprochen.«
»Wozu? Es ist doch vorbei, Konrad. Man sollte nur an schöne Stunden erinnern. Und davon gibt es genug zwischen uns. Das Dunkle in der Vergangenheit … warum es immer wieder heraufbeschwören? Jeden Tag scheint die Sonne von neuem, und wir freuen uns daran.«
»Du bist eine kluge Frau.« Dr. Linden lächelte schwach. »Verzeih … aber ich habe es noch nie bemerkt.« Er wandte sich wieder um, sah über das tropfnasse Land und den mit den Hufen klappernden ›Oberon‹. »Als ich Karin von Putthausen zum erstenmal sah …«
»Sie ist tot!« Brigitte richtete sich auf. »Sie starb wie eine vergiftete Katze, irgendwo in einer Ecke. Und so wurde sie auch begraben. Ihr Vater fuhr am selben Tag zur Jagd, als sei nichts geschehen. Nicht einmal einen Trauerflor trug er am grünen Rock, nicht ein schwarzes Bändchen im Knopfloch. Um einen Bastard trauerte man mehr als um dieses arme Mädchen.«
»Sie war unheilbar …«, sagte Dr. Linden leise.
»Aber du bist heilbar, Konrad. Du bist schon geheilt …«
»Ich danke dir, Gitte.« Er trat zu ihr ans Bett, beugte sich hinab und küßte ihre Stirn. »Laß uns Deutschland verlassen«, sagte er plötzlich. »Wir können überall leben.«
»Warum willst du dich verkriechen, Konrad?« Brigitte warf die Bettdecke von sich und stand auf. »Deine Klinik wartet auf dich.«
»Meine Klinik!« Es klang bitter, wie ein blechernes Echo. Er hob die Hände und hielt sie gegen das einfallende Licht. »Mit diesen Fingern wird eine Klinik zum Schlachthaus!«
An diesen letzten Satz mußte Dr. Linden denken, als er eine Stunde später in dem frisch gekalkten Kellergewölbe stand und auf den Seziertisch starrte, auf die Marmorplatte, auf die Instrumentenschränke, auf die Sterilisatoren, auf die
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