Privatklinik
setzte die Flasche wieder ab. Er spürte, wie in seinem Kopf ein Riesenkreisel zu brummen begann. Das sind die Nerven, dachte Kaul. Das sind die Hirnwindungen. Sie jubeln dem zurückgekehrten Alkohol zu. Ist das eine Freude!
Und dann dachte er an Susanne. An das Abendessen, das im Wärmfach des Herdes stand und auf ihn wartete. An Petra und Heinz, die noch wach im Bett lagen, weil sie darauf warteten, daß der Vater ihnen eine Mark gab. Sonntagsgeld. Und Gundula, das arme, kraftlose, dümmliche, ewig Kind bleibende Wesen mit dem Namen Mensch, lag jetzt in seinem Bettchen hoch oben auf dem Hügel über dem Lago Maggiore, dessen Schönheit es nicht begriff, in dem es nie den Sonnenglast über dem Wasser sehen würde, nie die Lichterkette von Tennero bis St. Nazaro, von Minusio bis Cannero. Und Dr. Hütli sagte gerade: »Schwester Umberta, morgen fangen wir an mit leichten elektrischen Reizen …«
Ist das eine Welt, dachte Peter Kaul weiter. Wird man geboren, um so zu leben. Susanne, Petra, Heinz, Gundula, und du, du ungeborenes, aber schon im Leib strampelndes Kindchen … euer Papi hat eine Frau getötet! Aus Moral! Dämlich, nicht wahr? Aber sagt mir, was nicht im Leben dämlich ist!
Gegen 23 Uhr fand man Lucie Kellermann zwischen den Blümchentapeten mit dem Silberstreifeneffekt und dem mittlerweile angetrockneten Kleister. Neben ihr, auf der Erde, hockte Peter Kaul wie ein Affe, eine leere Rumflasche neben sich, und sang mit zitternder, tremulierender, aber durchaus nicht klangloser Stimme das schöne Lied vom Wasser des Rheins, das Wein sein müßte.
Judo-Fritz selbst war es, der dieses grausig-komische Bild entdeckte. Er kam nur deshalb in den Neubau, weil er in seinem Zimmer in der Landesheilanstalt vergeblich auf seine Lucie gewartet hatte, die sonst, wenn Fritze Nachtdienst hatte, für eine Stunde erschien und durch den Vollzug der ehelichen Gemeinschaft ihm den Gedanken an die lange Nachtwache verschönte. Zuerst war Judo-Fritze zu Susanne Kaul gegangen, um von Peter zu erfahren, ob es Lucie etwa wieder schlecht gehe und sie Migräne wie öfter in den letzten Wochen habe. Aber auch Peter Kaul war noch nicht zu Hause. Susanne saß unruhig in der Küche und legte eine Patience, die Kinder schliefen schon, im Radio spielte leise ein Orchester Walzermelodien von Strauß, Vater und Sohn.
»Alles, was recht ist«, hatte Fritz gesagt. »Aber überarbeiten soll sich der Peter auch nicht. Der braucht ja nicht an einem Abend die ganze Diele zu kleben! Ich nehme an, daß Lucie bei ihm ist und ihm 'ne große Kanne Kaffee gebracht hat. Gucken wir mal nach. Kommen Sie mit, Susanne?«
»Ja, Herr Kellermann. Ich bin schon ganz unruhig … so lange blieb er sonst nie aus.«
Judo-Fritze hatte seine Station für eine Stunde der Schwester von Station 1 anvertraut und war mit Susanne zum Neubau gefahren.
Während Susanne aufschrie, neben ihrem Mann niederkniete und seinen pendelnden Kopf an sich zog, legte Judo-Fritze ohne sichtbare Erregung sein riesiges Ohr auf Lucies Brust und lauschte. Dann nickte er, umfing mit einem Blick noch einmal die Lage und schnaufte laut auf.
»Das bleibt unter uns, Susanne«, sagte er mit unbekannter leiser und heiserer Stimme. »Wir bringen Peter gleich weg. Ich rufe für Lucie nur schnell den Krankenwagen. Sie lebt sogar noch!«
»Was ist denn hier los?« stammelte Susanne. Sie schüttelte den lallenden Kaul, klopfte gegen seine Wangen und zwang ihn, sie anzusehen, indem sie seinen Kopf mit beiden Händen festhielt. »Peter! Was ist denn geschehen? Was soll das alles? Was hast du mit Lucie gemacht? Warum denn? Warum denn?«
»Fragen Sie ihn nicht, Susanne.« Judo-Fritze sah wie ein stumpfsinniger Riesenaffe auf seine im Tapetenkleister liegende Frau. »Nehmen Sie ihn mit. Er soll sich ausschlafen. Ich entschuldige ihn morgen beim Elektromeister. Und wenn er wach ist, sagen Sie ihm, ich danke ihm …«
»Sie …« Susanne ließ Peters Kopf los. Entsetzen machte sie völlig tatenlos. »Was auch immer vorgefallen ist … Peter hat es nicht mit Willen getan …«
Lucie Kellermann überlebte die Nacht in der neurochirurgischen Klinik. Man hatte sofort den Schädel geöffnet und einen Bluterguß entfernt, der wichtige Hirnfunktionen abzudrücken drohte. Judo-Fritze erzählte den Ärzten bei der Einlieferung etwas von einem Unglücksfall. »Auf dem Kleister ist sie ausgerutscht!« sagte er. »Und mit der Birne auf 'ne Kante geschlagen. Dusselig, aber wahr.« Und die Ärzte lächelten,
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