Privatklinik
Brüste gelegt hatte und müde einschlief, als habe er sein erstes Erlebnis hinter sich gebracht. In diesen Stunden verzieh sie ihm alles. Er ist wirklich ein Kind, mein größtes Kind, dachte sie. Er braucht mich, ich bin sein einziger Lebenshalt.
Bis er wieder tobte und ihr Herz sich erneut verhärtete.
Nun hatte sie eingekauft, auf Pump, aber man gab es ihr gern. Eine Art Schicksalsgemeinschaft war in der Wohnkolonie entstanden. Die Frauen rückten zusammen. Saufen taten sie alle, ihre Männer. Der eine mehr, der andere weniger. Dann rückten sie die Möbel gerade oder wurden kindisch oder geil wie die Springböcke. O Himmel, man hatte schon Themen genug! Daß es gerade Susanne Kaul war, deren Mann an der Spitze marschierte, war traurig, aber noch immer besser als der eigene Mann. Und so half man, so gut es ging, in dem dumpfen Bewußtsein, daß der gleiche Fall auch einmal in der eigenen Familie eintreten könnte.
Um fünfzehn Uhr, pünktlich mit dem Schlag der nahen Kirchenglocke, stand Susanne Kaul vor dem Portal der Heilanstalt. Sie hatte Petra und Heinz an der Hand, Gundi war bei einer Nachbarin geblieben. Sie machte ja keine Mühe. Sie lag in ihrem Bettchen, spielte mit den bunten Holzklötzchen und mummelte vor sich hin.
Wie Pfarrer Merckel es ihr gesagt hatte, kam sie nur mit eßbaren Geschenken. Den Koffer mit den Kleidern Peters hatte sie schon gepackt, aber zu Hause gelassen, als sie erfuhr, daß ihr Mann noch ein paar Tage zur Beobachtung bleiben müsse. Es war Pfarrer Merckel schwergefallen, diese Lüge fließend auszusprechen, aber er betrachtete sie als eine fromme Lüge, die Gott ihm verzeihen würde. Auch eine Lüge kann ein gutes Werk sein.
Für die Besucher hatte man in der Heilanstalt ein besonderes Besuchszimmer mit verschiedenen Tischen und Sitzgruppen eingerichtet. Es war nicht zumutbar, daß die Verwandten in die Krankenzimmer kamen, wo zeitweilig Vernünftige zusammen mit delirierenden Patienten lagen. Einmal war es sogar vorgekommen, daß eine Abordnung von Alkoholgegnern mit einem Nackttanz der Belegschaft von Zimmer vierzehn empfangen wurde. Seitdem wurden die Insassen sorgfältig ausgewählt, die Besuche empfangen durften. Man führte sie in das Besuchszimmer, und unter den Augen von drei kräftigen Pflegern fanden die familiären Begegnungen statt. Sie waren meist kurz, denn die wenigsten hatten sich noch viel zu sagen. Man sah sich an, begrüßte sich, übergab das Paket, wechselte ein paar Floskeln, wünschte weiterhin gute Besserung und ging. Wer einmal hier, in der Abteilung der Alkoholiker, gelandet war, hatte einen Schritt von der Welt weg in das Inferno bereits getan. Man sprach miteinander wie durch eine gläserne Wand, und die meisten kämpften ihr Bedürfnis nieder, diese Glaswand einfach anzuspucken und zu gehen.
Auch Susanne Kaul wartete an einem kleinen, viereckigen Tisch, der unter einem Fenster stand. Petra und Heinz standen neben ihr, ihre kleinen Hände noch immer in den kalten, bebenden Händen der Mutter vergraben. Mit großen Augen sahen sie sich um, hinüber zu den anderen Tischen, wo sie sich schon gegenübersaßen, ausgemergelte Gestalten, mit Totenschädeln, mit knochigen Fingern, Greise, in deren Augen nur noch das Alter flackerte, Mumien, vom Alkohol konserviert und doch ausgelaugt.
»Ist Papi auch so krank wie die da?« fragte Petra leise. Susanne Kaul zuckte zusammen.
»Pst!« sagte sie. »Sei still, Liebling.«
Die Tür öffnete sich. Zuerst erschien die wuchtige Gestalt von Judo-Fritze, dann folgte, in dem gestreiftem Pyjama erbärmlich aussehend, Peter Kaul.
»Papi!« riefen Petra und Heinz und rissen sich von den Händen Susannes los.
Die Tränen kamen ihr in die Augen. Sie sah durch einen Schleier, der sich verdichtete und über ihre Wangen wegfloß, sein Gesicht … dieses immer noch geliebte, fragende, von Freude und Zweifel durchzogene Gesicht, seine Augen, die aufleuchteten, sein Mund, der etwas Unhörbares sagte, als er die Kinder an sich preßte und über ihre Haarschöpfe streichelte.
»Peter«, stammelte sie. »O Peter …«
Sie sahen sich an, und es tat ihm leid, daß sie so weinte. Eine natürliche Scheu vor dem Blick des Pflegers überwand er … er beugte sich vor und gab seiner Frau einen schnellen Kuß. Nach Salz schmeckte er, dachte er. Ihr ganzer Mund ist voll Tränen.
»Gib mir den Koffer mit den Sachen, Susi«, sagte er heiser. Es war ihm, als müsse er jeden Augenblick auseinanderplatzen. »Wo hast du den Koffer
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