Privatklinik
schloß die Tür ab, legte sogar die Sicherheitskette davor und stupste Susanne in die große Wohnküche. Dort saß am Tisch ein vierjähriges dunkellockiges Mädchen, trank Kakao und aß eine mit Margarine bestrichene Rosinenplatzschnitte.
»Was hat die Tante, Mami?« fragte es.
»Sei still, Monika.« Frida Milbach drückte Susanne auf einen Küchenstuhl und setzte sich dann davor. »Warum weinen Sie denn?«
Susanne Kaul nahm die Hände vom Gesicht und sah Frida Milbach wie ein müde gehetztes Tier an. »Mein Mann ist in einer Anstalt …«, sagte sie leise. »In einer Trinkerheilanstalt …«
»Monika, geh hinaus und spiel im Zimmer!« sagte Frau Milbach schnell. »Einen Augenblick, bitte.« Sie nahm Tasse und Teller, stupste die etwas widerspenstige Monika aus der Wohnküche in ein Nebenzimmer und kam dann zurück. »Es ist nicht nötig, daß die Kinder so etwas hören«, sagte sie, als sie sich wieder vor Susanne setzte. »Sie haben durch den Tod ihres Vaters genug mitgemacht.«
Susanne Kaul senkte den Kopf. Es war ihr unmöglich, Frida Milbach anzusehen. Sie war eine grobe, resolute, etwas derbe Frau, sicherlich eine gute Mutter, die sich auf ihre Kinder gefreut hatte und die den Haushalt blitzsauber hielt und immer ein gutes Essen bereit hatte, wenn Johann Milbach nach Hause gekommen war, sich am Tisch reckte und sagte: »So, Mutter, und nun fahr mal auf! Ah! Gebratene Leber mit Rosenkohl! Und 'n Bier dazu! Mutter, du bist 'ne Wucht!«
»Mein Mann trinkt«, sagte Susanne stockend. »Seit ein paar Jahren … er trinkt, weil er die Belastung seines Gewissens nicht mehr ertragen kann, weil er erpreßt wird, weil er einer Schuld nicht anders weglaufen kann als durch die Flucht in den Alkohol. Eine Schuld, die mit Ihrem Mann zusammenhängt …«
»Mit Johann?« Frida Milbach saß wie erstarrt und musterte die fremde Frau. »Was hat Johann mit Ihrem trinkenden Mann zu schaffen?«
»Mein Mann ist schuld am Tod Ihres Mannes«, sagte Susanne mit letzter Kraft.
»Dummheit!« Frida Milbach legte die Hände in den Schoß. Plötzlich zitterten sie. Der Tag, an dem man Johann Milbach nach Hause brachte, stand wieder vor ihr auf. Sie hatte es erst gar nicht begriffen, sie hatte geglaubt, er sei nur besinnungslos, weil ihm ein Gesteinsstück auf den Kopf gefallen sei oder ein Grubenstempel oder ein Werkzeug. Unter Tage lauern ja überall Gefahren. Vielleicht auch eine Gasvergiftung. Aber dann legte man Milbach ins Bett, faltete seine Hände über der Brust und legte eine Rolle, aus einem Handtuch gedreht, unter das Kinn, damit der Mund nicht aufklappte. Da erst begriff sie, das kannte sie von ihrem Vater und ihrer Mutter, das hatte sie selbst bei ihnen gemacht … und dann schrie sie, schlug um sich, als man sie vom Bett wegzerren wollte, sie fiel vor den verstörten und schreienden Kindern auf die Knie und brüllte: »Euer Papa! Euer Papa! Mein Jean! Mein Jean! Mein Gott! Mein Gott! Nimm uns doch alle mit! Uns alle! Ich will nicht mehr leben …«
Ein grauenhafter Tag war es gewesen … Frida Milbach atmete tief auf und starrte auf den gesenkten Kopf Susannes. Als sie sprach, war ihre Stimme fremd und heiser.
»Mein Mann hat damals ein nicht isoliertes Kabel berührt und bekam einen elektrischen Schlag. Aber es war seine eigene Schuld. Die Kameraden haben es mir nachher erzählt. Er sah die gerade gezogenen Drähte, nutzte die Mittagspause aus und wollte sich ein paar Meter abschneiden. Für uns … er wollte im Schlafzimmer eine neue Leitung ziehen. Er konnte nicht wissen, daß die Strippen schon unter Strom standen. Als er mit der Zange abkneifen wollte, war's geschehen.«
Frida Milbach starrte gegen den weißen Küchenschrank. Zwei Wochen vor seinem Tod hatte Johann ihn noch lackiert. »Es war seine eigene Schuld, Frau Kaul …«
»Aber mein Mann … mein Mann war es doch, der die Drähte gezogen hat und den Strom während der Pause nicht abschaltete …«
Nach diesem Satz lag zwischen den beiden Frauen tiefes Schweigen. Sie blickten sich an, und plötzlich war zwischen ihnen eine tiefe Gemeinschaft des Leides. Auch wenn sie nicht sprachen … ihre Augen redeten genug. Unsere Männer, sagten sie. Der eine starb, der andere zerbrach durch Alkohol. Der eine wollte ein paar Meter Strippen organisieren, der andere ließ Strom in der unisolierten Leitung. Beide sind sie Opfer einer Schuld, aber jeder für sich, der eine ist nicht schuld an der Tragödie des anderen. Nicht miteinander, sondern nebeneinander gingen
Weitere Kostenlose Bücher