Privatklinik
sie zugrunde. Der eine ins Grab, der andere hinter die Gitter einer Heilanstalt.
»Da sitzen wir nun«, sagte Frida Milbach leise. »Und was nun? Ihr Mann konnte nicht wissen, daß mein Johann …«
»Aber er hat die Leitung …«
»Wenn Johann nicht hätte klauen wollen …«
»Und wenn Peter nicht den Strom …«
»Wir sind arme Luder, wir Frauen!« sagte Frida Milbach und stand auf. »Ich koche uns einen starken Kaffee.« Sie setzte Wasser auf, holte eine Plastikdose und zählte fünf Meßlöffel Kaffee für eine kleine Kanne ab. »Nun sitze ich da mit fünf kleinen Kindern, nur weil Johann ein paar Pfennige sparen wollte. Und Sie – haben Sie auch Kinder?«
»Drei. Das jüngste ist verblödet …«
»O Gott! Durch … durch das Saufen?«
»Ja. Der Arzt sagt es.«
»Und alles wegen der Leitung! Wegen so ein paar Metern Strippe! Ist das Leben nicht ein Hohn, was?« Auf dem Elektroherd begann der Wasserkessel leise zu singen. »Als wir heirateten, da hatten wir große Pläne. Ein kleines Haus im Grünen, ein kleiner Wagen, jeden Sommer 'ne Reise, im Garten Gemüse und Blumen, und die beiden Jungs sollten auf die höhere Schule und mal was anderes werden als Püttmann! Ingenieur oder so was. Und da packt man an so einen dämlichen Draht, und alles ist vorbei. Das ganze Leben! In einer Sekunde! Man kann das gar nicht begreifen! Ich kann es noch immer nicht. Ich glaube manchmal, am Abend, immer noch, Johann kommt von der Schicht heim. Ich decke sogar seinen Platz … und dann kommt Fritz, mein Ältester, und nimmt den Teller wortlos wieder weg. Dann weiß ich, daß Johann nie wieder von der Schicht kommt. Man kann sich einfach nicht daran gewöhnen.« Der Wasserkessel brodelte und flötete. Frida Milbach stellte die Elektroplatte ab, goß das sprudelnde Wasser auf das Kaffeemehl und setzte den Kessel wieder zurück. Der Duft starken Kaffees durchzog die warme Wohnküche. »Aber Ihr Mann, Frau Kaul«, sagte Frida Milbach und rührte mit einem langen Löffel in der Kanne, damit das Kaffeemehl auch hundertprozentig ausgelaugt würde, »Ihr Mann hat an allem keine Schuld! Er braucht nicht in den Suff zu fliehen. Warum denn?«
»Er glaubt aber, er sei der Schuldige.« Susanne Kaul faßte plötzlich die Hand Frida Milbachs und hielt sie fest. »Kommen Sie mit!« rief sie. »Gehen Sie mit mir in die Anstalt! Sagen Sie es meinem Peter, daß er keine Schuld hat. Keinem wird er es glauben … nur Ihnen! Sie können ihm seine Ruhe wiedergeben. Sie können ihn und uns, mich und die Kinder, retten! Denn wenn es so weitergeht, sind wir am Ende …«
Frida Milbach goß den Kaffee aus. Mit zitternden Fingern hielt sie das Sieb über die Tassen.
»Wann … wann kann man ihn besuchen?« fragte sie tonlos.
»Jederzeit! Professor Brosius wird die Genehmigung dazu geben …«
»Dann gehen wir morgen, ja? Und ich nehme meine Kinder mit. Alle fünf.« Frida Milbach setzte sich schwer. Sie hatte das Leid überwunden, sie war jetzt die Stärkere. »Und nun trinken wir den Kaffee, ja? Ich freue mich, daß Sie zu mir gekommen sind.«
Susanne Kaul verließ nach einer Stunde die Wohnung Frida Milbachs. Sie hatte noch zwei andere Milbach-Kinder kennengelernt, zwei Jungen, die aus der Schule kamen. Wilde, laute Burschen, die durch die Wohnung tobten. Frisches gesundes Leben. Sie haben es überwunden, dachte Susanne. Sie haben den Anschluß wiedergewonnen. Wir, die Kauls, stehen noch im Zusammenbruch … Unser Tod ist nicht plötzlich, in einer Sekunde, mit einem Blitz – er ist schleichend, jahrelang, grausam und aushöhlend. Ein schrecklicher Tod, der erst durch die Höllen geht …
Auf der Straße, während des Rückweges, wurde ihr wieder schlecht. Sie erreichte gerade noch ein Café, rannte auf die Toilette und erbrach sich wieder. Den Kaffee der Frida Milbach und das Stück Apfelkuchen, das sie noch gegessen hatte.
Bleich lehnte sie sich an die Kacheln. Ihr Magen zuckte wie in Krämpfen, Galle hatte sich in der Mundhöhle gesammelt und hinterließ einen bitteren, brennenden Geschmack.
Auch das noch, dachte sie und drückte das Gesicht an die glatten Kacheln. Auch das noch! Wie gemein ist doch das Leben, wie gemein …
Prof. Brosius war mit dem Besuch der Familie Milbach einverstanden, nachdem Pfarrer Merckel ihm die Hintergründe geschildert hatte.
»Das wirft ja ein völlig anderes Bild auf unseren Patienten!« sagte Brosius und machte sich einige Notizen. »Ein Schuldkomplex – ja, warum hat man mir das nicht gleich
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