Projekt Babylon
Wochen war auch schon jemand hier. Hat nur Gestammel aus ihm herausbekommen.«
»Es war jemand hier? Wer?«
»Ich hatte das Gesicht schon mal im Fernsehen gesehen. Irgendein Politiker, glaube ich.«
»Was wollte er? War er ein Verwandter?«
»Ich habe keine Ahnung, Monsieur. Und es geht mich auch nichts an.«
»Na gut. Wo finde ich Monsieur Henrot?«
»Zimmer siebenundzwanzig, im zweiten Stock, die Treppe hinauf und den rechten Gang entlang.«
Die Flure im oberen Stockwerk waren mit altertümlichen, gelblichen Mustern tapeziert, der Boden mit braunem Linoleum bedeckt, Wandlampen tauchten das Ganze in ein trübes, ungesundes Licht. Eine Frau mit weißer Schürze und einer weißen Haube trat aus einer Tür auf den Gang. Sie schien Patricks unsicheren Blick zu bemerken und kam auf ihn zu.
»Was suchen Sie, Monsieur?«
»Zimmer siebenundzwanzig, Jacques Henrot.«
»Folgen Sie mir. Sind Sie ein Verwandter? Sie werden vielleicht einen Schreck bekommen, wenn Sie ihn wiedersehen, er ist in bedauernswertem Zustand.« Sie öffnete eine Tür und ließ Patrick eintreten. Der Raum war ebenso düster wie es der Flur gewesen war. Der linke Teil war mit einem Vorhang abgetrennt, der an einem dünnen Gestänge befestigt war. An der Stirnseite des Zimmers befand sich ein kleines, vergittertes Fenster, durch das man direkt in die rostigen Schatten der Kiefern sah. An der rechten Wand standen ein hölzerner Beistelltisch und ein Bett. Darauf deutete die Frau.
»Da liegt er.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich denke, Sie haben nicht vor, lange zu bleiben? In einer halben Stunde muss er seine Medizin bekommen.«
»Ich bin aus Paris angereist, ich werde so lange bleiben, wie ich kann. Was für Medizin, sagen Sie?«
»Es sind nur ein paar Tabletten. Vielleicht können Sie auch dabeibleiben, wenn Sie möchten.« Sie verließ den Raum.
Patrick war allein. Allein in diesem verdammten Zimmer, umgeben von Verfall und Krankheit. Er fühlte sich unglaublich fehl am Platz. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, er müsse nur die Augen öffnen und würde irgendwo anders wieder aufwachen. Es war wie in einer fremden Welt. Eigentlich arbeitete er an einem wissenschaftlichen Projekt für die Vereinten Nationen, und nun stand er hier, in einem unbekannten, verwahrlosten Sanatorium, irgendwo auf dem Land, wo die Zeit stehen geblieben war, im Zimmer eines Schäfers, der den Verstand verloren hatte...
Patrick fiel ein, dass er sich nicht danach erkundigt hatte, wie sich der Zustand des Schäfers äußerte. War er noch immer wahnsinnig? War er aggressiv? War er gefährlich? Ein ungutes Gefühl kroch in ihm hoch und steckte bald wie eine warzige Kröte in seinem Hals. Zögerlich trat er an das Bett und warf einen Blick hinein.
Erschrocken wich er einen Schritt zurück.
Mit aufgerissenen Augen starrten ihn die verzerrten Züge eines irrsinnigen Mannes an. Er lag zusammengerollt auf der Seite, wirre, weiße Haare umgaben seinen Kopf wie nasses Stroh, die Wangen waren eingefallen, der Mund in einem Lächeln eingefroren, die Augäpfel schienen ein wenig herauszuquellen, so dass man den roten unteren Rand sehen konnte. So erschreckend der Anblick war, so wenig konnte sich Patrick ihm entziehen. Er bemerkte, dass ihn der Mann gar nicht ansah. Seine Augen bewegten sich zwar, aber der Schäfer schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Es war, als hätte man einem Schlafenden die Lider geöffnet.
»Monsieur Henrot?« Patrick kam sich dumm vor, den völlig abwesenden Mann anzusprechen. »Jacques? Können Sie mich verstehen?«
Der Schäfer zeigte keinerlei Reaktion. Patrick hatte Berichte von Menschen gelesen, die jahrelang im Koma gelegen und doch jedes Wort verstanden hatten, das gesprochen worden war. Bis irgendein Ereignis sie ganz plötzlich aufweckte. Vielleicht war es bei dem Schäfer ja auch so. Vielleicht konnte er alles verstehen, und man musste nur den Auslöser finden. Aber was sollte er ausprobieren? Sollte er jetzt allen Ernstes hier wie mit einer Wand sprechen? Andererseits, dieser Mann, oder das, was von ihm übrig war, stellte Patricks einzige Verbindung zum Inneren der Höhle dar. Nur dieser Mann konnte ihm weiterhelfen. Nun, da er eigens hierher gefahren war, sollte er wenigstens das Beste daraus machen und nichts unversucht lassen.
»Jacques, Sie müssen mir zuhören. Verstehen Sie mich? Geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie mich verstehen können!«
Noch immer rührte sich der Mann nicht, nur seine Augen glitten weiter durch das
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