Projekt Babylon
oder so ähnlich hatte es hier wohl immer ausgesehen. Diese Männer kümmerten sich nicht um irgendwelche Bürogebäude in Genf, um die Europäische Weltraumorganisation, um Palenque, Lissabon oder eine merkwürdige Sekte in Paris. Sie lebten in ihrer eigenen Welt, die vor eintausend Jahren die von Rittern und Burgen und vor zweitausend Jahren die von Römern und Kelten gewesen war. Doch auch davon schien niemand Notiz zu nehmen, geschweige denn vom wohl faszinierendsten Rätsel wenige Kilometer entfernt. Diese Menschen schienen ihre Vergangenheit nicht auszugraben und zu ehren, man mochte fast meinen, sie lebten auf einer eigenen, parallelen Zeitspur. Patrick stellte sich vor, was passieren würde, wenn ein Ritter in voller Rüstung plötzlich hier auftauchte. Wahrscheinlich würde er so gut ins Bild passen, dass weder die Dorfbewohner noch er selbst irritiert wären.
Schließlich machte er sich wieder auf den Weg nach Carcassonne. Im Auto dachte er über seine Pause nach. Er wunderte sich über sich selbst. Er war nie romantisch oder philosophisch veranlagt gewesen. Und trotzdem hatte ihn das Bedürfnis nach Ruhe überkommen. Oder vielleicht war Frieden das bessere Wort. Innerer Frieden. Er sah viele Dinge aus einer neuen Perspektive, in größerem Zusammenhang. Plötzlich schrumpften Zeitalter und Kontinente zusammen, das emsige Bestreben eines einzelnen Menschen schien demgegenüber bedeutungslos. War es so, dass man den Sinn des Lebens vielleicht niemals im Erreichen hehrer Ziele suchen sollte, sondern im eigenen Frieden mit der Welt?
Was für ein Schwachsinn! , fluchte Patrick innerlich. Als ob mir jemand ins Gehirn geschissen hat! Seit dem Vorfall in der Höhle hatte er bisweilen sehr merkwürdige Anwandlungen, fand er. Es wurde höchste Zeit, dass er das Sanatorium und den Schäfer fand, um zu verstehen, was da mit ihm vorging. Vielleicht war es ja nur der Anfang, und er wurde ebenfalls langsam verrückt.
Es war nicht leicht, das Sanatorium zu finden. Es lag außerhalb von Carcassonne, angeblich wenige Kilometer, dennoch brauchte er noch fast eine halbe Stunde, bis er es erreicht hatte. Der Weg war nicht ausgeschildert, und die meisten Passanten hatten noch nie davon gehört. Eine alte Bäuerin kannte es schließlich, doch der Weg, den sie ihm beschrieb, führte quer durch einen Weingarten über einen holprigen Feldweg, der bestenfalls für Traktoren geeignet war.
Endlich schälte sich das Gebäude aus einem Dickicht von Kiefern und Efeu heraus. Es stand auf einem Hügel und hatte wohl ehemals das umgebende Tal überblickt, doch die ungepflegten Gartenanlagen hatten inzwischen die Sicht so gut wie zugewuchert. Das Sanatorium war in einer alten, zweistöckigen Villa untergebracht, erbaut 1882, wie eine mit blaugrauen Flechten bewachsene Stuckarbeit über dem Eingang verriet. Wenn das Äußere auch verwahrlost aussah, so war es im Inneren doch überraschend sauber. Patrick betrat eine mit zweifarbigen Kacheln ausgelegte Halle, von der aus zwei Gänge abzweigten. Den Raum beherrschten ein Kronleuchter mit langen, dürren Armen, auf denen nackte Glühbirnen saßen, und eine steinerne Treppe. Auch sie war gekachelt und beiderseits mit einem schmucklosen Geländer aus Messing versehen. Ein Geruch nach scharfem, ammoniakhaltigem Putzmittel hing in der Luft. Direkt zu seiner Rechten bemerkte Patrick eine Art Pförtnerhäuschen oder Rezeption. Es war brusthoch mit dunklen Holzpaneelen verkleidet, dann ging es in eine Glasscheibe über, aus der eine halbrunde Öffnung als Durchreiche herausgearbeitet war. Dahinter saß ein ernst blickender Mann mit Hemd und Schlips und beugte sich interessiert vor, als er Patrick eintreten sah.
»Ich suche Mr. Jacques Henrot, ich bin ein Verwandter von ihm.«
Der Mann beugte sich über ein großes Heft, das vor ihm lag. Es enthielt nicht viele Einträge, aber er machte einen sehr gewissenhaften Eindruck, als er mit dem Finger einige Spalten nachfuhr, bis er den Namen gefunden hatte.
»Sie können nicht mit ihm sprechen, Monsieur.«
»Wie bitte?! Was soll das heißen, ich kann nicht mit ihm sprechen? Ich bin extra aus Paris angereist. Mein Privatsekretär hat meinen Besuch bereits vor ein paar Tagen angekündigt. Jetzt sagen Sie mir nicht, Sie wüssten nichts davon!«
Der Mann hinter der Scheibe ließ sich von Patrick nicht beeindrucken. »Sie können ihn natürlich besuchen, aber Sie können nicht mit ihm sprechen. Hat man Ihnen das nicht gesagt? Er spricht nicht. Vor zwei
Weitere Kostenlose Bücher