Projekt Babylon
weder ein globales Ereignis, noch fand sie in Ägypten statt. Die moderne Forschung bestätigt dies auch. Inzwischen ist nachgewiesen, dass der Wasserstand des Schwarzen Meeres ehemals hundert Meter tiefer lag, und dass es das Land zwischen Euphrat und Tigris war, das vollständig überschwemmt wurde.« Sie blickte zu Peter, wie um sich die historischen Daten bestätigen zu lassen, doch dieser hielt sich für die Dauer des Vortrags zurück. Sie fuhr fort: »Die Sintflut fand im Nahen Osten statt; bis hier war auch die Zivilisation vorgedrungen, und von hier stammen die Berichte über die Sintflut.«
Sie hatten inzwischen das Querschiff erreicht und erlangten hier erstmals einen guten Eindruck von der gewaltigen Höhe der Kathedrale. Um zu verhindern, dass andere Touristen ihrem Gespräch folgten, setzten sie ihren gemächlichen Gang bald fort.
»Noahs Sohn, Sem, entstammten die semitischen Stämme, darunter auch die Akkader, die das Zweistromland eroberten und die Sprache und Schrift der Sumerer bereicherten. So gebar die sumerische Stadt Ur schließlich den Stammvater Israels: Abraham.«
»Warum erzählen Sie uns das alles?«, fragte Patrick.
»Um Ihnen die Verbindungen aufzuzeigen. Es waren stets die von der Sprache Gottes durchdrungenen Semiten, die die Geschicke der Welt bestimmten. Babylon nannten die Griechen später die sumerische Stadt Bab-Ilum, wo die Semiten den Turm der Türme bauten, um Gott näher zu kommen.« Sie machte eine Pause. »Sie wurden furchtbar dafür bestraft... Wie Sie wissen, bauten die aus Abraham geborenen Israeliten den Tempel von Jerusalem – und wie oft bauten sie ihn erneut auf!«
»Sie wollen darauf hinaus, dass es eine Beziehung zwischen der Sprache Gottes gibt und den großen Bauten des Altertums?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage, die Patrick halblaut äußerte.
»Richtig!« Renée Colladon wandte sich ihm lächelnd zu. »Wirklich, Monsieur, darauf wollte ich hinaus. Dies ist der heilige Ursprung der Tradition der Freimaurer. Wenn Sie sich an den Besuch im Tempel erinnern mögen?«
»Tempel?«
»Die große Halle unserer Loge, in der die Begrüßung stattfand.«
»Ach so, ja, ich erinnere mich.«
»Ihnen werden zwei Säulen aufgefallen sein. Sie stehen dort in Anlehnung an die beiden Säulen, die nach der Sintflut gefunden wurden. Sie enthielten die Geheimnisse des Wissens, die schließlich über Noah verbreitet wurden, der nach Westen, nach Ägypten, zog und dessen semitische Nachkommenschaft das Wissen auch im Osten, in Sumer und dem späteren Babylonien verbreitete.«
Sie wandte sich Peter zu, der gerade auffällig die Augen verdreht und Luft eingesaugt hatte. »Monsieur le Professeur, Sie werden keinen historischen Bericht hierüber kennen, denn dieses ist Wissen, das in unserer Tradition seit Jahrtausenden gehütet wird. Die eine Säule verkörpert den ägyptischen Gott Thot, den Herrn der Schrift, der Sprachen und des geheimen Wissens. Die andere Säule ehrt Henoch, den Prophet Elohims, der vor der Großen Flut lebte. Auch er lehrte den Umgang mit der Feder und verbreitete das Wissen. Es sind zwei Aspekte derselben Macht, die hinter den Worten der Thora verborgen liegt.«
»Womit wir bei der Thora wären«, sagte Patrick. »Haben Sie schon geheimes Wissen darin gefunden?«
»Seit Jahrtausenden wird die Heilige Schrift gelesen, und es wäre ein großer Zufall, wenn es in meiner Lebenszeit geschehen würde, dass sich der Menschheit ihre gesamte Weisheit offenbarte. Möglicherweise, nein, höchstwahrscheinlich können Menschen niemals die Gänze der Wahren Thora überblicken, denn das würde bedeuten, dass wir uns Gottes Weisheit genähert hätten, was uns in diesem körperlichen Leben aber nicht zugestanden ist. Aber kleine Wunder geschehen jeden Tag, und jeder, der die Thora liest, findet seine eigene Wahrheit.«
»Peter, Sie sagen gar nichts«, sagte Patrick, »was halten Sie von der ganzen Sache?«
»Ich denke darüber nach«, antwortete der Professor, der scheinbar lediglich die Architektur bewunderte und nur wie beiläufig zuhörte, »wie oft ich solche Plattitüden schon gehört habe, und ich warte ab, ob wir noch etwas weniger nebulöse Antworten bekommen werden.«
»Zugegeben, Madame«, sagte Patrick, »mir scheint es auch, als würden Sie sich ein wenig herausreden.«
»Das ist nicht der Fall, und ich habe keineswegs das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen.« Sie war vor der Absperrung stehen geblieben und betrachtete den Chor. Als sich
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