Projekt Babylon
Einiges kann ich Ihnen aber schon sagen, und deswegen habe ich Sie eingeladen.« Er stand auf, während er weitersprach. »Luther war ein schlauer Kopf, 1483 geboren, studierte mit achtzehn bereits in Erfurt, wurde Eremitenmönch, studierte dann noch mal Theologie und promovierte mit neunundzwanzig zum Doktor und Professor der Heiligen Schriften. Beachtlich, nicht wahr? Ein großer Geist, der durch eine besondere Zielstrebigkeit und Willenskraft befördert wurde.«
»So viel steht allerdings noch in jedem Lexikon«, sagte Peter.
»Richtig. Was dort nicht steht, ist, dass diese ›mystischen Anwandlungen oder ›Einflüsse‹ heute gleichsam nur noch das schwache Glühen eines verlöschenden Funkens sind, verglichen mit dem okkulten Feuersturm, der ehemals die Figur Martin Luthers wie das Leuchtfeuer Alexandrias strahlen ließ.
Er war nicht nur beeinflusst , und er hatte auch keine Anwandlungen. Die Mystik erfüllte ihn und sein Leben bis ins Mark.«
»Ich darf behaupten, dass ich gespannt bin, wie Sie das jetzt belegen wollen«, sagte Peter.
»Überlegen Sie selbst. Das fünfzehnte Jahrhundert war intellektuell besonders interessant und anregend. Wissenschaft und Forscherdrang erreichten einen Höhepunkt. Die Mauren wurden endgültig aus Spanien und Portugal vertrieben, das byzantinische Reich kam zu einem Ende, nachdem Konstantinopel gefallen war. Die fremdländischen Gelehrten wurden durch Gruppen wie die Medici gefördert, das Wissen, das sie zugänglich machten, geradezu aufgesogen. In Italien entwickelte sich eine neue künstlerische Kultur, die Renaissance. Die Perspektive in der Malerei wurde erstmals mathematisch beschrieben, und Gutenberg erfand den Buchdruck. Der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich fand ein Ende, eine Ruhepause der Besinnung, Neuorientierung und der Entdeckungen trat ein. Nennt man es nicht auch das Jahrhundert der Entdeckungen?« Während er sprach, ging er auf und ab und gestikulierte mit einer Inbrunst, als sei er selbst dabei gewesen. »Es war das Ende des Mittelalters und der Beginn einer neuen Zeit. Aber die Fortschritte waren nicht allesamt rein wissenschaftlich. Vieles wurde noch als teuflisch oder göttlich angesehen. Natürlich, das Schwarzpulver und die Waffen wurden verbessert, aber bedenken Sie, dass es Jeanne d'Arc war, die die Wende im Hundertjährigen Krieg herbeiführte. Durch ihre göttlichen Visionen geleitet, gefeiert und schließlich als Hexe verbrannt. In Spanien wurde gleichzeitig Tomas de Torquemada zum Großinquisitor berufen und sorgte dafür, dass die spanische Inquisition zum Inbegriff von Folter und Schrecken wurde.« Der Geschäftsmann schien kaum mehr zu bremsen zu sein. »Heinrich der Seefahrer öffnete seine Navigatorenschule in Sagres mit Regeln strengster Geheimhaltung. Wie wir heute wissen, war aber Navigator nicht nur im seemännischen Sinne zu verstehen, denn der Infante war Großmeister des Templerordens. Das Meer war Sinnbild der Unwissenheit und der menschlichen Beschränktheit, aber auch der grenzenlosen Zukunft. Die Navigatoren waren die Steuermänner im Chaos der Dunkelheit, Anführer und zugleich Pilgerer nach Wissen und Weisheit. Christobal Colón, besser bekannt als Christof Kolumbus, betrat die Neue Welt und nahm sie in Besitz im Namen der Könige von Spanien, aber auch im Namen des Templerordens, unter deren Flagge, dem roten Tatzenkreuz, seine Schiffe fuhren.«
»Der Templerorden war aber bis zum vierzehnten Jahrhundert recht nachhaltig verfolgt und vernichtet worden.«
»Ja, aber in Portugal und Spanien überlebte er unter dem Namen ›Christusorden‹.«
»Und was hat das Ganze mit Luther zu tun?«, fragte Patrick.
»Es geht darum: In dieser Zeit wurde mehr Wissen erarbeitet und zugänglich als in den Jahrhunderten zuvor. Gleichzeitig wurde Wissen auch gefährlich, wie die Inquisition und der ländliche Aberglaube und Hexenwahn zeigten. Wissen und Forschung gingen Hand in Hand mit Mystizismus, und keine Forschung wurde ohne ein höheres Ziel dieser Art betrieben. Heinrich der Seefahrer wollte seine Navigatoren die Welt erobern lassen – nicht des Geldes wegen, sondern der Erkenntnis und der Verbreitung seines Glaubens wegen. Gutenberg druckte die ersten Bücher – ebenfalls nicht des Geldes wegen; er druckte dreihundertmal in prachtvollster Manier das Wort Gottes, die Bibel. Und nun ist da Martin Luther. Er wächst Ende des Jahrhunderts auf, studiert und hat Zugang zu all diesem Wissen. Er liest heilige und
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