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Projekt Babylon

Titel: Projekt Babylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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unheilige Schriften und zieht seine Schlüsse. Fast wird er zum Ketzer, als er sich auf die Seite der zweihundert Jahre zuvor durch die Kirche ausgerotteten Katharer stellt. Er ist der Überzeugung, dass das Göttliche im Menschen liegt. Dass wir uns nicht durch Taten beweisen oder durch Sühne von Schulden freikaufen müssen oder können. Dass Jesus bereits für unsere Sünden gestorben ist, und dass der Glaube in Gott und dessen Gnade den höchsten Stellenwert hat.« Er nahm die Bibel vom Tisch. Während er sprach, blätterte er abwesend darin und stellte sie schließlich wieder zurück. »Luther ging den Dingen auf den Grund. Er studierte die heiligen Texte nicht nur, er analysierte sie auch. Und er stellte fest, dass es noch mehr gab als die Bibel. Er ging bis zum Ursprung, und hinter den Büchern des Neuen Testamentes fand er die Bücher Moses, und in ihrem hebräischen Original den Weg zu einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge.«
    »Die Wahre Thora?«
    »Oder die Ewige Thora, die Weisheiten Gottes, ja. Luther kannte die Methoden der Kabbala und widmete sein Leben dem Studium der Bücher Moses.«
    »Die Bücher Moses gehören zum Alten Testament. Aber Luther wurde bekannt als Reformator, der Begründer der protestantischen Bewegung, und es ist doch gerade das Neue Testament, das die Grundlage der protestantischen Kirche bildet.«
    »Sie haben völlig Recht«, erklärte Samuel. »Denn Luther hat es gewusst, die Dinge einzufädeln. Er hat nichts dem Zufall überlassen. Seinen unglücklichen Vorkämpfer Jan Hus hatte man noch 1415 in Konstanz verbrannt. Aber Luther wusste genau, dass er für Ketzerei weder in Deutschland noch in Rom auf den Scheiterhaufen kommen würde, wenn er sich geschickt anstellte. So konnte er die katholische Kirche herausfordern, im Wissen, dass seine scharfsinnigen Thesen beachtet werden würden. Wohl wissend auch, dass ihm in einem theologischen Disput niemand das Wasser reichen konnte. Heute würde man sagen, er ist ein PR-Genie gewesen. Er konnte sich exzellent in Szene setzen und als enfant terrible der christlichen Welt Werbung für sich und seine Sache machen.«
    »Man ist aber im Allgemeinen der Ansicht, dass Luthers Herausforderung – und letztlich Spaltung – der katholischen Kirche völlig unbeabsichtigt war. Und welchen Zweck hätte es auch haben können? Wäre er verborgener Mystiker oder Okkultist gewesen, wäre doch die öffentliche Aufmerksamkeit wohl mehr als hinderlich gewesen.«
    »Auf den ersten Blick scheint das so zu sein. Aber Luther hatte etwas anderes vor. Mit seinem radikalen Gedankengut trat er etwas los, das im Folgenden genährt werden musste. Seine Kritik an der katholischen Kirche kam ja auch nicht von ungefähr, und sie traf den Nerv der Zeit. Dies diente ihm als Nährboden für seinen letzten großen Coup: Er übersetzte die Bibel in die Sprache des Volkes. Genial. Schach!«
    »Wenn ich ehrlich bin«, sagte Patrick, »kann ich Ihnen noch nicht so ganz folgen... Schach ?«
    »Wenn Sie beim Schachspiel in Schach geraten, dann konzentrieren Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren König. Sie haben gar keine andere Möglichkeit, als ihn in Sicherheit zu bringen oder den Störenfried auszuschalten. Luther tat das Gleiche. Er hatte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in einem ausgeklügelten Ränkespiel völlig auf sich konzentriert. Indem er die Bibel übersetzte, tat er einen scheinbar konsequenten Schritt in diesem Spiel, und die Lutherbibel wurde zum zentralen Fokus des ›Reformators‹ Luther. Aber in Wirklichkeit erreichte die Lutherbibel einen ganz anderen Zweck.« Samuel holte ein übergroßes, in metallene Deckel geschlagenes Buch hervor. Als er es vor ihnen öffnete, stellte sich heraus, dass sein Inneres kostbare, hebräisch beschriftete Pergamente enthielt, die in transparente Kunststofffolien eingeschlossen waren.
    »Er erreichte, dass die Aufmerksamkeit von den Urschriften abgelenkt wurde!«
    Peter und Patrick beugten sich vor, um die Papiere zu begutachten. Sie erinnerten an die Texte von Qumran oder ähnliche Dokumente aus biblischer Zeit.
    »Überlegen Sie«, fuhr Samuel fort, »der Buchdruck war erfunden worden, mehr und mehr wurde publiziert, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich Kopien des Alten Testaments auch auf Hebräisch in hunderttausendfachen Kopien verbreitet hätten. Indem es aber nun neben der lateinischen Bibel eine Bibel des Volkes gab, war klar, dass die Aufmerksamkeit auf das Hebräische immer stärker abnehmen

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