Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
ihm weggegangen war. Dann hatte sie sich auf der Krankenstation wiedergefunden, bei Iridium. Sie hatte Iris Hand gehalten, so wie Iri am nächsten Tag ihre halten würde. Und als die Lichter schon lange gelöscht waren und Nachtruhe herrschte, nahm Jet ihren Schattenumhang ab, wurde wieder sichtbar und weinte. Wie durch einen Nebel hindurch nahm sie wahr, dass sie unerlaubterweise ihre Macht benutzt hatte. Niemand hatte es bemerkt, keine der Alarmglocken geschrillt. Aber auch das spielte alles keine Rolle.
Sie weinte, ganz leise, um Iridium nicht zu stören. Die war allerdings so mit Medikamenten vollgepumpt, dass sie vermutlich nicht einmal aufgewacht wäre, wenn Jet lauthals gejammert hätte. Jet weinte und weinte. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Herz langsam in kleine Stücke zerrissen. Als würden die Fetzen wegfliegen und einen Hohlraum in ihrer Brust hinterlassen, der umso mehr schmerzte, weil sich nichts darin befand. Jet weinte und überließ sich ihrem Kummer.
Ihre Schuld.
Sie war zu langsam gewesen. Wieder einmal. Iri war verletzt, weil Jet nicht schnell genug reagiert hatte. Und die Blutung nicht stoppen konnte.
Jet hatte den Schuss noch nicht einmal gehört, der Samson niederstreckte, ihn mit einem Schlag fällte wie einen Baum. Und dabei hatte Sam direkt neben ihr gestanden.
Sie war keine Heldin. Nur ein verängstigtes kleines Mädchen in einem hautengen Anzug, das glaubte, ein Anrecht darauf zu haben, glücklich zu sein.
Iri verletzt und Sam … oh, Gott … Sam tot. Und wenn Jet eine echte Heldin gewesen wäre, dann wäre das alles nicht passiert.
Und jetzt saß sie hier, auf Sams Beerdigung. Videokameras surrten. Die Lautsprecher verursachten mit ihren Rückkopplungsgeräuschen ein derartiges Chaos in ihrem Ohrknopf, dass sie ihn ausschalten musste.
Nichts spielte mehr eine Rolle.
Nicht Night mit seiner kalten Arroganz, nicht mal Iri, die auch fast gestorben wäre. Nicht die wispernden, kichernden Stimmen.
Vielleicht zeigte das alles nur, wie grausam Gott wirklich war. Denn das war bis jetzt das einzige Mal in ihrem ganzen Leben, dass sie sich der Dunkelheit überlassen wollte, ganz gleich, ob diese sie verschlang. Aber heute blieben die Stimmen stumm. Vielleicht trauerten sie ja auch.
Es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle.
Nach der Beerdigung würde sie ihren Anzug und ihren Ohrknopf abgeben. Und wenn das bedeutete, dass man sie in die Therapie schicken würde, dann spielte das ebenfalls keine Rolle.
Auf der Bühne faselte der Superintendent allerhand über den aktuellen Zustand der Welt und warum die Schwadron mehr denn je gebraucht würde. Jet schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand da Bürgermeister Moulton. Er schwafelte monoton über den sinnlosen Hass, der dieses entsetzliche Ereignis heraufbeschworen hatte. Sie blinzelte wieder, und Mister Marvel sprach davon, dass der Tod ein Risiko sei, dem jeder einzelne Held sich aussetzte, wann immer er an die Front ging oder flog.
Das alles hat nichts mit Sam zu tun, dachte Jet, und diese Erkenntnis durchbrach ihre Erstarrung.
Hier sollte es um Sam gehen.
Fast konnte sie spüren, wie er seinen Arm um ihre Schultern legte, und sie lehnte sich an ihn. Iridium flüsterte irgendetwas Sinnloses. Ob mit Jet alles in Ordnung sei. Aber Jet reagierte nicht. Sie wollte dieses Gefühl nicht verlieren, dass Sam hier bei ihr war, dass er sie anfasste und küsste und mit ihr lachte und ihr sagte …
… ihr sagte …
» Es ist zu früh dafür«, sagt er und streichelt ihr Gesicht. »Ich weiß, es ist zu früh, aber Joannie, ich muss es dir sagen, bevor es mich zerreißt. Und ich bete zu allen Göttern, dass du nicht wegläufst.«
»Du kannst es mir sagen«, erwidert sie mit einem Flattern im Bauch und einem sonderbar leichten Gefühl in der Brust. »Du weißt, du kannst mir alles sagen.«
Und er lächelt – oh Gott!, wie hell seine Augen leuchten –, und er sagt: »Ich liebe dich.«
Dann weint sie, nur ein bisschen, und er hat Angst, dass er sie verschreckt hat. Und dann fängt sie an zu lachen, und sie küsst ihn, und sie sagt ihm, dass sie ihn auch liebt …
»Jet? He, antworte mir.«
Wieder Iridium. Jet hob den Kopf, erwiderte aber nichts. Sam redete mit ihr. Die Erinnerung an Samson hielt sie fest und versprach ihr, dass alles wieder gut werden würde …
»Ich schwöre«, sagt Jet. Sie hört den weinerlichen Unterton in ihrer eigenen Stimme und kommt doch nicht dagegen an. »Ich kann das niemals
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