Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
nahm Jet ihren Umhang mit der Kapuze vom Haken neben der Tür. Oh ja, dachte sie, warf ihn über und befestigte ihn, sodass er bequem von ihren Schultern hing. Sie war bereit zu handeln. Und für Antworten. Sie würde nicht ruhen, bevor sie Antworten bekam.
Fast fertig – aber wo war ihre Optibrille?
»Terry«, rief sie, »wo –«
Das Licht ging aus.
Obwohl es etwa elf Uhr morgens war, wurde es stockdunkel im Wohnzimmer. Als ob draußen ein Sturm aufgezogen sei und die Sonne sich nicht mehr durch den Smog kämpfen konnte … oder als ob jemand die Schatten verstärkt hätte.
Für einen Moment stockte Jet der Atem. Dann drängte sie die Furcht zurück. Keine Zeit, um Angst zu haben. Sie musste das Licht wieder ankriegen, bevor die Stimmen zu wispern begannen.
Aber zuerst kam die Pflicht: Die Zivilistin aus der Gefahrenzone schaffen. »Terry«, rief Jet, während sie ihre Kapuze überstülpte. »Ist alles in Ordnung?«
»Terry ist nicht hier, Darling«, erwiderte eine Männerstimme -übermütig, fast großspurig. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Eine Welle von Zorn spülte über sie hinweg und erstickte ihre Angst vor der Dunkelheit. »Ich habe ihr für den Nachmittag freigegeben.«
Die Stimme kam aus dem Schlafzimmer.
Lenk ihn ab. Mach das Licht an.
»Das hättest du nicht tun sollen. Sie ist schon bis morgen bezahlt«, sagte Jet, während sie in einem Bogen in die Küche schlich und den Lichtschalter betätigte – umsonst. Sie lief zurück ins Wohnzimmer und probierte es an der Eingangstür. Es zischte, als ein Stromstoß durch ihren Handschuh fuhr.
»Klingt, als hättest du hier ein Problem mit der Elektrik.« Seine Stimme war jetzt viel näher, kam durch den Korridor auf sie zu.
Jet zielte mit ihrer Hand auf die Tür zum Wohnzimmer und fragte: »Wo hast du denn deine Geliebte gelassen?«
»Wen?« Noch näher.
»Iridium.« Sie machte sich bereit. »Du weißt schon. Groß. Schlank. Vorlaut. Trägt meistens Weiß.« Komm schon, sag noch was. Nur ein Wort …
»Meine Geliebte, häh? Das ist ja goldig.«
Jet ließ einen Schatten los. Er traf irgendetwas, aber sie konnte weder einen Schrei hören noch ein Grunzen. Daher nahm sie an, dass sie nicht getroffen hatte. Verfluchte Finsternis aber auch! Ich brauche Licht!
Ein Lachen. Hinter ihrem Rücken. »Iridium kann leider nicht hier sein. Sie ist ein bisschen verhindert.«
Jet wirbelte herum und schoss einen weiteren Schattenpfeil ab. Hörte, wie etwas klimperte und zerbrach.
»Ich hoffe, du bist gut versichert«, sagte der Mann von irgendwo links. An der Eingangstür. »Ach, übrigens: Ich habe mir mal deine Brille ausgeliehen. Die sieht wirklich hübsch aus. Motzt mich ganz schön auf. Lässt mich irgendwie gefährlicher aussehen.«
Jet trat nach rechts hinten, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Ihre Beine stießen gegen das Sofa. »Was willst du?«
»Eine All-inclusive-Reise nach Europa wäre schön.« Diesmal von rechts. Verdammt, der Mann bewegte sich völlig lautlos. »Vielleicht eine Tasse Weltfrieden. Oh, und einen Befehl von Jet. Dass ich gehen soll.«
Er schien ein ziemliches Plappermaul zu sein. Sie warf einen Ball aus schwarzer Materie in seine Richtung.
»Daneben«, flüsterte er in ihr Ohr.
Sie rammte ihm ihren Ellbogen in die Magengrube. Er aber packte ihren linken Arm und drehte ihn auf den Rücken. So fest, dass ihre Schulter aus dem Gelenk zu springen drohte. Mit einem wütenden Grunzen schleuderte sie ihren Kopf nach hinten, traf ihn direkt in den Brustkorb. Er keuchte heftig.
»U-uh, Darling. Den Trick kenne ich schon.« Er zwang ihren Arm noch weiter nach hinten, bis er fast brach. Mit der anderen Hand riss er ihr die Kapuze vom Kopf und den Umhang von den Schultern. Die Stimmen bäumten sich auf, redeten wild durcheinander, verlangten es.
schlag ihn schlag ihn SCHLAG IHN SO HART WIE DU KANNST
Nein!
Sie geriet in Panik. Aber nicht, weil ihr der Mann den Arm auf den Rücken gedreht hatte. In der Dunkelheit schienen sich die Schatten zu sammeln, schienen sich zu erheben und eine Gestalt zu bilden. Etwas mit Zähnen. Etwas, das Hunger hatte …
SCHLAG IHN SCHLAG IHN SCHLAG IHN TÖTE IHN ER SOLL SCHREIEN
»Seid still!« Sie konnte nicht denken, konnte nicht gleichzeitig die Stimmen ausblenden und gegen Iridiums Laufburschen kämpfen. Sie wand sich in seinem festen Griff und trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß. Er grunzte nicht mal. »Lass mich sofort los!«
ER SOLL SCHREIEN ER SOLL LEIDEN ER SOLL SCHATTEN
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