Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
umgeh das verdammte Ding! Ich frier mich hier unten zu Tode, Jet. Und dann musst du bei der Graduierungsfeier allein vor all den Nachrichtenkameras herumstolzieren.«
»Halte durch, ich rufe sofort Night an.«
Fluchend rieb sich Iridium die Arme und versuchte, sich ein bisschen aufzuwärmen. Im Moment konnte sie sowieso nichts weiter tun, als abzuwarten, bis Night Jet befahl, ihren Hintern aus dem Gleiter zu schwingen und sie zu retten.
Die Zeit verrann. Zwei Minuten vergingen, bis Jet sich zurückmeldete: »Night sagt, ich soll direkt zurückfliegen und Bericht erstatten.«
»WAS?«, kreischte Iridium.
»Er sagte etwas von einem Zeugen für diese ungewöhnliche Anforderung, Papierkram und so weiter. Das sei Vorschrift, sagt er …«
»Zur Hölle damit, Joannie! Hol mich hier raus! Sofort!«
»Es … die Vorschriften, Iri. Ich werde direkt Bericht erstatten und dann mit Verstärkung zurückkommen. Rühr dich nicht vom Fleck.«
»Vorschriften? Bist du denn total bekifft? Stell den Autopiloten aus und hilf mir!«
»Das werde ich«, rief Jet. »Ich verspreche es. Aber ich muss tun, was Night verlangt. Ich will nicht, dass wir deswegen durchfallen. Ich bin im Handumdrehen zurück!«
Sie brachte den Gleiter in eine aufrechte Position und raste los. Sie würde direkt Bericht erstatten, so wie Night es verlangt hatte, und dann zurückkommen, um das Richtige zu tun.
»Na klar, sicher«, murmelte Iridium. »Ich kann mir ja einen Milchkaffee holen, während ich hier gemütlich warte.«
»He.« Ein Penner schlurfte aus der zerstörten Hütte. »Alles in Ordnung mit dir, Mädchen?«
»Nur ein kleines Missgeschick«, sagte Iridium und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung. Ihr Kostüm war klatschnass, und sie zitterte vor Kälte.
»Ziemlich schlimmer Sturz, was?«, sagte der Penner. »Bist du von Corp?«
»Kann schon sein«, gab Iridium zurück. »Vielleicht hatte ich ja bloß einen schlechten Tag und bin vom Himmel gefallen. Können Sie mir sagen, wie ich zur nächsten U-Bahn-Station komme?«
Der Penner schniefte. »Die nächste Station ist über drei Kilometer entfernt. Du musst durch Alleytown durch und dann den Broadway hoch.«
Bei Alleytown schien es sich um das dunkle Gewirr von Gassen, ärmlichen Hütten und provisorischen Lichtmasten zu handeln, das sie hinter der linken Schulter des Penners erkennen konnte. Seufzend wrang Iridium den Saum ihres Uniformröckens aus. »Danke, Opa.«
»Sieh dich vor!«, rief er ihr nach. »Alleytown ist eine sehr ungemütliche Gegend.«
Iridium kam es nicht ungemütlicher vor als das Viertel, in dem sie früher mit ihrer Familie gewohnt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals bei Corp gelebt zu haben – Lester war zu einem Abtrünnigen geworden, bevor sie alt genug war, um solche Dinge wirklich bewusst wahrzunehmen. Die meisten Leute, die in Alleytown wohnten, schienen der Kälte wegen in ihren Hütten oder Fertigteilhäusern zu hocken. Iridium schlang die Arme um ihren Körper. Das eine Mal, als sie ihren verfluchten Ohrknopf hätte brauchen können, lag er bei Jet im Gleiter. Und die flog gerade zurück zur Akademie, während sie sich hier den Hintern abfror.
Wahrscheinlich regte sie sich sogar mehr über die Möglichkeit auf, durch die Prüfung zu fallen, als dass sie sich Sorgen um Iridium machte.
Dieser lieblose Gedanke schien mit dem kalten Wind in sie einzudringen. Iridium versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken, und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Füße, um vereiste Stellen zu umgehen.
Gib’s zu, mein Mädchen – du bist selbst schuld. Deine Freundin hat das mit den Vorschriften schon richtig verstanden.
»Halt die Klappe, Dad«, murrte Iridium laut. Gott, er konnte so dermaßen nervig sein!
Hinter einer Straßenecke hörte sie plötzlich Stimmen. Eine weinte und eine lachte. Iridium verlangsamte ihre Schritte und wandte den Rücken instinktiv der nächsten Wand zu. Dann spähte sie um die Ecke, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass sie selbst nicht zu sehen war.
Eine Frau mit rosa Pelzjacke und Minirock lag ausgestreckt auf dem Boden, Hals und Gesicht blutüberströmt. Die Haut in dem tiefen V-Ausschnitt, den ihr Stretchtop freiließ, mit zahlreichen Schnittwunden bedeckt.
Über ihr stand ein ganz und gar unauffällig aussehender Mann – klein, brünett, teigiges Gesicht, dunkle Augen. In der einen Hand hielt er ein Krallenmesser. Mit der anderen öffnete er seinen Hosengürtel.
»Halts Maul, du Schlampe!«, bellte er,
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