Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
Zehenspitzen errötete. Egal. Er konnte ihr Gesicht sowieso nicht richtig sehen. »Was hat Sie in diese Gasse geführt, bevor sie gesichert war?«
»Sie.« Er hielt ein metallenes Kommunikationsgerät hoch, das im Sonnenlicht blinkte. »Ops hat mich geschickt. Ich bin Ihr neuer Runner.«
Jets verkniffenes Lächeln verwandelte sich in ein ungekünsteltes Grinsen. Das wurde aber auch Zeit, verdammt noch mal! Sie bezwang den starken Drang, ihm das Comlink aus der Hand zu reißen und sich ins Ohr zu stopfen. Professionell. Höflich. Machtvoll. Einen Atemzug später sagte sie: »Ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits. Ich bin Bruce Hunter und ein großer Fan von Ihnen.«
Immer noch errötet wie ein Schulmädchen nahm Jet das Comlink. Als ihre behandschuhten Finger seine nackten Hände berührten, hätte sie schwören können, dass sie ein Prickeln spürte. Als würden summende Energieschauer über ihren Körper tanzen.
Unsinn. Runner waren völlig normale Menschen. Das Gefühl musste sie sich eingebildet haben.
Wenn doch die Art, wie sich das Prickeln fortsetzte, auch nur Einbildung wäre. Sie ignorierte die Wärme, die sich in ihr auszubreiten begann, und erwiderte: »Vielen Dank, Mr Hunter. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie so schnell gekommen sind.«
Seine blauen Augen glitzerten, und Jet bemerkte ein Grübchen in seiner rechten Wange. »Bitte nennen Sie mich Bruce. ›Mister Hunter< klingt so alt.«
»Sie können doch nicht älter sein als 20«, entfuhr es ihr. Sofort biss sie sich auf die Zunge, denn ihr wurde klar, dass sie den Gedanken laut ausgesprochen hatte. Was in aller Welt war nur mit ihr los? Erst hatte sie Iridium entkommen lassen, und jetzt flirtete sie auch noch mit einem Runner?
Glucksend antwortete er: »Tja, eigentlich 23.«
Ein Jahr älter als sie. Jet fühlte, wie die Wärme in ihrem Körper umherwanderte, ein Flattern in ihrem Magen verursachte und ihre Brüste …
Oh, heiliges Licht.
Sie zuckte mit den Achseln, bis ihr Umhang ihren Körper komplett einhüllte. Dann erwiderte sie sein Lächeln. Sie war fasziniert von seinen Augen, die fast wie elektrisiert wirkten.
Einen Augenblick später räusperte er sich, und genau in diesem Moment bemerkte Jet, dass sie ihn wie ein verliebter Teenager anstarrte. Sie zog die Lippen noch höher, um nicht zu stöhnen.
Falls Bruce ihre Notlage bemerkte, war er anscheinend Gentleman genug, um es nicht zu erwähnen. Stattdessen sagte er: »Möchten Sie, dass ich diese Jungs hier aus dem Verkehr ziehe? Um Ihnen das ganze Hin und Her mit den Cops zu ersparen? Ich bin sicher, Sie haben noch andere Verpflichtungen.«
Sie seufzte fast vor Erleichterung. »Das wäre ganz toll. Und es macht Ihnen wirklich nichts aus?«
»Hey, ich bin dazu da, Ihnen das Leben leichter zu machen.«
Das klang unglaublich nett. Keiner ihrer anderen Runner war jemals von seinen Vorgaben abgewichen, um irgendetwas zu tun, worum man ihn nicht gebeten hatte. Die meisten, so glaubte Jet, hatten sich vor ihr gefürchtet. Selbst die von allen geliebte Lady der Schatten war am Ende doch eine Schattenmacht. Sie schob diesen bitteren Gedanken beiseite und erwiderte: »Also, es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen, Bruce.«
»Geht mir genauso. Wir sehen uns dann heute Abend?«
Ihre Augen traten hervor. Dann riss sie sich zusammen und befahl ihrem Gesicht, wieder einen unbeteiligten Ausdruck anzunehmen. »Wie bitte?«
Wieder lächelte er, und Jet stellte fest, dass sie es genoss, wie seine blauen Augen vor Fröhlichkeit blitzten. »Ahm, um Ihnen das Abendessen zu bringen? Es sei denn, Sie haben heute Nacht einen Einsatz …?«
»Oh … richtig.« Natürlich würde er ihr Abendessen bringen. Das gehörte zu den Aufgaben der Runner. Sie hatten dafür zu sorgen, dass die Außermenschlichen keine einzige Sekunde ihrer beschränkten Freizeit damit verbringen mussten, sich mit Zivilisten abzugeben, um solche weltlichen Dinge zu regeln, wie zum Beispiel Essen bestellen. Oder dafür zu bezahlen. »Ich werde heute Abend zu Hause sein. Sollten sich Änderungen ergeben, informiere ich Ops.«
Er zwinkerte ihr zu. »Dann bis heute Abend im Komplex.«
Sie war in der Luft, noch bevor sie bemerkte, dass sie einen Schattengleiter herbeigerufen hatte, um sie wegzufliegen. Bruce, dachte sie, und sein Name hallte in ihrem Kopf nach. Bruce. Bruce. Bruce.
Es dauerte ganze fünf Minuten, ehe ihr einfiel, das neue Comlink ins Ohr zu stecken.
KAPITEL
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