Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht
seinen Duft so lange in sich ein, bis ihr schwindelig wurde.
Und dann rammte sie ihm ihr Knie zwischen die Beine.
KAPITEL 35
NIGHT
Ein allgemeines Merkmal der Geistmächtigen: Wenn sie ihre Kräfte nicht richtig dosieren, wird die Persönlichkeit des Empfängers aufgespalten – manchmal auf Dauer.
- Aus dem Tagebuch von Martin Moore, Eintrag Nr. 8
Night blinzelte. Er war in einer dunklen Welt gewesen – im Reich der Dunkelheit –, und man hatte ihn als Gott verehrt. Keine Sonne. Keine Scheinwerfer. Keine Helden oder Schurken oder Menschen, die darum bettelten, von sich selbst erlöst zu werden. Nur er, Night, und die stärksten – würdigsten – Außermenschlichen.
Und der Schatten, natürlich. Alles gehörte dem Schatten.
Es war nicht real gewesen.
Doch, bei Gott, wie sehr er sich wünschte, es wäre real! Selbst jetzt noch konnte er die Schattenstimmen hören. Sie drängten ihn, es Wirklichkeit werden zu lassen, diese köstliche Vision in ein Fenster zur Welt zu verwandeln. Einer besseren Welt. Einer dunklen Welt.
Es war nicht real.
Aber es könnte sein. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Und dann sah er Luster neben sich. Der rieb sich den Kopf, und … wurde der etwa rot?
»Ich werde den Mistkerl töten«, murmelte Bradford vor sich hin.
Wen …?
Hypnotic.
Night fuhr nach links herum – da war Angelica …
… und küsste Hypnotic? Wahnsinn! Er musste sie unter seine Kontrolle gebracht haben.
Night fauchte wütend und rief den Schatten, bereitete sich innerlich darauf vor, sie im Notfall beide zu töten – aber dann rammte Angelica ihr Knie in Hypnotics Hoden. Schlug ihn. Trat ihn. Und noch mal. Und wieder. Überall waren ihre Fäuste und ihre Knie und ihre Füße, schlugen ein in Hoden, Kinn und Magengrube. Dabei schrie sie wie eine Irrsinnige, jedes Mal, wenn sie einen Treffer landete.
Und Hypnotic ließ es zu. Nicht einen Finger rührte er, um sie zu stoppen, benutzte nicht seine mentalen Kräfte, um sie zu hypnotisieren.
Da begriff Night: Hypnotic liebte diese Frau. Und es war die Liebe, die ihn verriet und auf die Knie zwang.
Wie poetisch. Und auch deshalb würde Night sich niemals gestatten, sich zu verlieben. Liebe endete immer unglücklich, so viel stand fest. Entweder in Tränen oder in Blut. Oder beidem. Es war besser, allein zu bleiben und in Sicherheit zu sein, als sich zu verlieben und alles aufs Spiel zu setzen.
»Was …?« Das war Blackout. Mühsam rappelte er sich vom Fußboden hoch. »Holly?«
Während Blackout zu seiner rasenden Frau rannte, verschaffte sich Night in aller Eile einen Überblick über die Lage im Raum. Von den meisten der Anwesenden wich Hypnotics Bann allmählich wieder. Die Außermenschlichen – ihre Kameraden von der Schwadron New York – kamen ebenfalls wieder zu sich. Der größte Teil der Zivilisten, die Hypnotic zu seinen Werkzeugen gemacht hatte, war immer noch außer Gefecht von dem Schatten, den Night über sie geworfen hatte. Zumindest waren sie aber noch am Leben.
Night runzelte die Stirn, als er an all die Männer und Frauen dachte, die ihr Leben an Hypnotics Wahnsinn verloren hatten, überlegte, welchen Anteil er selbst an ihrem Tod hatte.
Dann wurde ihm klar, dass es ihn nicht wirklich kümmerte.
Night ballte die Hände zu Fäusten. Es musste ihn kümmern. Es war seine Aufgabe, Menschen zu retten. Es war seine Aufgabe, nicht zuzulassen, dass sie als Geiseln missbraucht wurden, dass sie ins Kreuzfeuer außermenschlicher Gefechte gerieten.
Dreiundfünfzig. So viele Menschen hatte Hypnotic getötet.
So viele Menschen hatte Night in den Tod geschickt, als er die Lüge in Hypnotics Ohr geflüstert und ihm die Medizin gegeben hatte, die ihm half zu entkommen.
Dreiundfünfzig Tote. Und er konnte sich nicht dazu bringen, dass es ihn kümmerte.
Bei Gott, es kümmerte ihn nicht im Geringsten.
Jemand schrie.
Nein, mehrere schrien gleichzeitig. Angelica, während Blackout sie liebevoll umarmte und festhielt. Major Victory, der starke Mann von New York, während er sich mit bloßen Fäusten einen Weg durch die Wand bahnte. Und ein anderer New Yorker, Bonfire. Er presste verzweifelt die Hände auf die Augen und blutete Feuer.
Und auch Night selbst schrie. Er tat es, um zu beweisen, dass es ihn kümmerte. Schrie, um die Schattenstimmen zu übertönen, die in seinem Kopf flüsterten, ihm wispernd versprachen, sie würden ihm helfen, die Dunkelheit über die Welt zu bringen.
Eine Hand auf seiner
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