Projekt Ikarus 02 - Im Zwielicht

zugewandt, schwelgte sie in Genuss, während sie sie austrank.
    Sie spürte, wie sie fielen, eins nach dem anderen. Und immer noch drückte sie zu. Als sie sich schließlich dem Schatten ergaben, zog sie die Decke zurück und ließ sie alle vier auf dem Boden liegen, ohne Bewusstsein zwar, aber noch am Leben.
    Energie sang in ihr, tanzte an ihren Gliedern entlang. Mit einem Aufschrei warf sie den Schatten über zwei weitere der verformten Gestalten, hüllte sie fest ein. Drückte sie zusammen in der dunkelsten aller Umarmungen. Und auch diese brachen vor der Macht der Finsternis in die Knie.
    »Jet!«
    Sie wandte sich um. Erblickte Taser und musste lächeln – Bruce Hunter, ihr Geliebter für eine Nacht. Er ging rückwärts, die Arme in einer Geste der Unterwerfung erhoben. Sie erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, ihn in den Schatten zu hüllen, ganz langsam das Licht aus seinem Körper fließen zu lassen … erinnerte sich daran, wie gut sich das angefühlt hatte …
    »Joan«, sagte er. »Ganz ruhig. Ich bin einer von den Guten. Weißt du noch?«
    Sie starrte ihn an, blickte auf die eintönig schiefergraue Fläche seines maskierten Gesichts, seine Augen, die hinter der Brille versteckt waren, sein hämisches Grinsen, das unter dem Stoff zu ahnen war. Und sie dachte, wie einfach es doch wäre, ihn zu töten.
    Und dann wurde ihr klar, was sie dachte.
    Zitternd rief sie den Schatten in sich zurück, vollständig. Creeper züngelten über sie hinweg, zeichneten die Rundungen ihres Körpers nach wie in sanfter Liebkosung, bevor sie in sie hineinschmolzen.
    »Au ja«, sagte Taser, »so ist es gut. Hallo. Willkommen zurück aus dem Reich des Wahnsinns.«
    Beschämt und verärgert wandte Jet sich ab.
    Um sie herum lagen verstreut die reglosen Körper der Mutanten -viele von ihnen nur noch blutende, schwammige Fleischberge. Alle bewusstlos. Drei überzogen mit einer dünnen Eisschicht.
    »Kälteschock«, sagte Frostbite, als sie ihn ansah. »Nicht tödlich. Ich war vorsichtig.« Auch er bebte am ganzen Körper, lehnte sich gegen Steele, damit er nicht umfiel.
    Etwas abseits kauerte Iridium über Hornblower. Jet konnte kaum glauben, was sie sah: Das ganze untere Bein des Mannes mitsamt dem Knie fehlte. Iri hatte ihre Hände an den Stumpf gelegt. Zwischen ihrem Fleisch und seinem strahlte blendend hell das Licht.
    Oh Licht, Tyler!
    »Ich habe die Wunde verschlossen«, sagte Iri schließlich. Ihre Stimme klang müde und angespannt zugleich. »Aber er muss sofort ins Krankenhaus. Derek …?«
    »Bin dabei«, entgegnete Frostbite schwach. Dann riss er sich von Steele los, stolperte aber, und sie fing ihn auf, bevor er fallen konnte.
    Jet ging entschlossen hinüber zu Iridium und kniete sich nieder. Dann berührte sie Hornblower an der Schulter. Er war bewusstlos, entweder vom Schock oder vom Schmerz. »Ich hab ihn.«
    Iri kroch auf allen vieren aus dem Weg, während Jet eine Tragbahre aus Schatten schuf und den Bewusstlosen daraufhob. Dann rief sie einen Schattengleiter für sich selbst und kontaktierte Ops. »Nächstes Krankenhaus?«
    Eine Pause, dann Meteorites Stimme: »Cook County.«
    »Stell sicher, dass sie uns erwarten.«
    »In Ordnung.«
    Eine Hand auf Tylers Schulter, ihre Tränen verborgen hinter der Optibrille, flog Jet mit ihm zum Krankenhaus. Flog, so schnell sie konnte, und betete zu allen Göttern, es möge nicht zu spät sein.

KAPITEL 30
    IRIDIUM
     
     
    Testobjekt 3224, das fragliche Kind, ist in unserer Obhut. Seine Eltern sind tot. Der Präsident des Verwaltungsrates hat mir erzählt, es sei ein Autounfall gewesen. Natürliche Todesursache. Frage mich, ob es mich wirklich kümmert, dass er lügt? Ich fürchte, die Antwort ist Nein.
     
    - Matthew Ikarus, Tagebucheintrag vom 3. März 1991
     
     
    Iridium fühlte sich schwer. Still saß sie in einer Ecke des supergeheimen Klubhauses und sah zu, wie die echten Helden umhergingen. Alle bewegten sich langsam. Alle wurden sie niedergedrückt von Erschöpfung und dem Wissen darum, was mit Tyler passiert war.
    Dieser arme Junge! Arschloch oder nicht, Tyler war nicht älter oder weiser als sie selbst. Und er war verkrüppelt worden bei dem Versuch, ihr zu helfen.
    Nach einer Weile setzte Derek sich neben sie. »Ich bin sicher, er kommt durch.«
    »Ich hoffe.« Iridium massierte ihre Stirn, hinter der sich eine Migräne epischen Ausmaßes zusammenbraute.
    »Es war nicht deine Schuld«, versuchte Derek, sie zu beruhigen.
    »Verflucht, Derek, das weiß