Projekt Wintermond
Europa führten. Jennifer sah die wundervollen Orte von den Ansichtskarten ihres Vaters nun mit eigenen Augen: Rom, London, Zürich, Paris.
Sie erinnerte sich an den Spaziergang mit ihren Eltern durch die Straßen von Paris an einem Sommermorgen; sie erinnerte sich an die Sehenswürdigkeiten, den Lärm und die Gerüche dieser wunderschönen Stadt. Nachdem sie am Nachmittag eine Fahrt auf der Seine gemacht und die Gärten eines prachtvollen Schlosses besichtigt hatten, kehrten sie alle erschöpft ins Hotel zurück. Jennifer schlief in den Armen ihrer Eltern ein. Es gehörte zu den größten Freuden ihrer Kindheit, hei ihren Eltern im warmen Bett zu liegen und ihre Liebe zu spüren.
Als Jennifer dreizehn war. wurde ihr Bruder Robert geboren. Sie musste sich damit abfinden, nun nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Allzu schmerzhaft war es für sie nicht, denn Bobby war ein netter kleiner Knirps mit blonden Locken, der immerzu lächelte und sich freute, wenn seine große Schwester ihn auf den Arm nahm und mit ihm spielte. Manchmal aber versetzte es Jennifer einen Stich, wenn ihr Vater Bobby in den Armen hielt wie einst seine kleine Tochter. Er schien Bobby zu vergöttern, und das weckte Jennifers Eifersucht.
Eines Tages erklärte Jennys Mutter ihr, warum Bobby tatsächlich so etwas wie ein Wunder war, nachdem sie und ihr Mann sich viele Jahre ein zweites Kind gewünscht hatten. Alle Männer wünschten sich einen Sohn, sagte sie, aber das bedeute nicht, dass er sie, Jenny, nun weniger lieb habe. Doch Jennifer musste sich damit abfinden, die Liebe ihres Vaters zu teilen.
Als sie älter wurde, fiel Jennifer etwas Merkwürdiges auf: Es gab keine Fotos ihres Vaters aus früheren Zeiten. Die Eltern und Tanten, Onkel und Cousinen ihrer Mutter kamen manchmal zu Besuch, ihr Vater aber schien keine Verwandten zu haben und sprach auch nie darüber. Im Familienalbum war kein einziges Bild seiner Eltern, Brüder oder Schwestern zu finden, nur Fotos von Jenny, Bobby und ihrer Mutter. Es war so, als hätte ihr Vater keine Vergangenheit.
Doch eines Tages erfuhr Jennifer jäh, dass auch ihr Vater eine Vergangenheit hatte.
Eine Vergangenheit, mit der ein schreckliches Geheimnis verbunden war.
Während einer Geschäftsreise ihres Vaters nach Europa entdeckte sie die Truhe auf dem Speicher. Jennifer war vierzehn und hatte sich in ein hübsches junges Mädchen verwandelt. Ihre Hüften waren ausgeprägter geworden, ihre Beine lang und schlank, und seit kurzem trug sie einen BH. Doch wegen ihrer Zahnspange und der ständigen Veränderungen ihres Körpers fand sie sich hässlich. Was sie im Spiegel sah, gefiel ihr nicht.
An jenem Tag musste ihre Mutter Besorgungen machen. Jennifer blieb allein zu Hause und langweilte sich. So stieg sie die Treppe zum Speicher hinauf, den sie bisher kaum betreten hatte. In einer Ecke stand eine große alte, stabile Holztruhe. Jennifer erinnerte sich an die Schlüssel, die im Arbeitszimmer ihres Vaters hingen. Neugierig auf das, was in der Truhe war, rannte sie los, holte die Schlüssel und probierte sie durch, bis sie den passenden gefunden hatte.
In der Truhe lagen stapelweise Papiere.
Zuerst glaubte Jenny, es wären alte Geschäftsunterlagen. Doch als sie die Papiere durchblätterte, sah sie, dass es etwas anderes war: Kopien von Aussagen, die die Opfer eines Verbrechers der Polizei gegenüber gemacht hatten.
Joseph Delgado hat mein Leben zerstört… Er hat meinen Sohn brutal ermordet .
Joseph Delgado hat mein Unternehmen bestohlen… Er ist ein Dieb, dem man nicht vertrauen kann .
Joseph Delgado ist ein Mörder, der es verdient hat, für seine Verbrechen zu sterben…
Joseph Delgado ist ein gefährlicher junger Mann, der für den Rest seines Lebens hinter Gitter muss…
Wer war dieser Joseph Delgado?
Zwischen den Papieren lag ein Schwarzweissfoto, das wie ein Bild von einem Tatort aussah. Es war das grässliche Foto eines Mordopfers, das mit einem Messer in der Brust in einer schmutzigen Gasse lag. Das Gesicht des Toten war schrecklich verzerrt. Jennifer konnte den entsetzlichen Anblick nicht lange ertragen.
Bevor sie die Truhe wieder verschloss, entdeckte sie ein zweites Foto zwischen den Papieren. Sie nahm es und starrte fassungslos darauf: Es war das Foto eines jungen, dunkelhaarigen Mannes in Sträflingskleidung. Jemand hatte mit schwarzer Tinte einen Namen unter das Bild geschrieben: Joseph Delgado.
Das Gesicht kam Jennifer bekannt vor.
Es war das Gesicht ihres Vaters.
Diese
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