Projekt Wintermond
Entdeckung jagte Jennifer einen fürchterlichen Schreck ein. Joseph Delgado war offenbar ein böser Mann. Aber ihr Vater war nicht böse, also konnte er nicht dieser Delgado sei. auch wenn der ihm sehr ähnlich sah. Jennifer war völlig verwirrt.
Als ihr Vater von der Geschäftsreise zurückkehrte, fragte sie ihn: »Dad, wer ist Joseph Delgado?«
Paul March wurde kreidebleich. »Woher kennst du diesen Namen?«
Jennifer gestand, die Truhe geöffnet zu haben. »Der Mann auf dem Foto sah aus wie du, Daddy.«
Zum ersten Mal erlebte Jennifer, wie ihr Vater wütend wurde, während sich in seinen Augen nackte Angst spiegelte. Er verpasste seiner Tochter eine schallende Ohrfeige und stürmte aus dem Zimmer. Die schluchzende Jenny wurde von ihrer Mutter getröstet.
»Warum war Daddy so wütend?«, fragte das Mädchen unter Tränen. »Warum hat er mich geschlagen?«
»Du darfst nicht in Vaters Sachen wühlen. Jennifer«, sagte ihre Mutter, die blass geworden war. »Das darfst du nie wieder tun.«
»Aber ich hab doch nur…«
»Nie wieder, Jennifer.«
Jahre vergingen. Inzwischen war Jennifer eine junge Frau geworden. Nachdem sie ihr Kunststudium abgeschlossen und zwei langweilige Jahre in einer Galerie in Manhattan gearbeitet hatte, entschloss sie sich mit vierundzwanzig, Jura zu studieren. Sie erhielt ein Stipendium für die New York University, was ihren Vater mächtig stolz machte.
Er arbeitete noch immer bei Prime International und stieg weiter die Karriereleiter hinauf. Ein Jahr zuvor war das Unternehmen von einem privaten Investor aus dem Ausland übernommen worden, und Jennys Vater wurde zum stellvertretenden Direktor befördert. Er übernahm die Betreuung der größten Kunden und verdiente mehr Geld als je zuvor. Doch dieser Karrieresprung veränderte seinen Charakter. Er wurde kühl und launisch und schien unglücklich zu sein. Jennifer verstand nicht, warum.
Eines Tages ging sie zufällig an seinem Arbeitszimmer vorbei. Eine Terrassentür führte in den Garten, von dem man auf den See und den kleinen Steg blicken konnte. Ihr Vater ging hier oft mit Bobby spazieren. Im Sommer saßen sie stundenlang auf dem Steg, angelten und plauderten, bis die Sonne unterging. An jenem Tag war die Terrassentür geöffnet. Jennys Vater saß allein auf der Terrasse, das Gesicht in den Händen vergraben. Langsam hob er den Blick und starrte hinaus auf den See.
Jennifer hatte ihn noch nie so verzweifelt gesehen.
Als sie durchs Arbeitszimmer ging, um ihm Gesellschaft zu leisten, sah sie auf dem Schreibtisch aus Apfelholz eine graue, geöffnete Metallkassette liegen. Sie war leer. Neben der Kassette lagen ein gelber Notizblock und eine Diskette. Jennifer blieb stehen. Sie sah das Wort »Wintermond« auf dem Notizblock, darunter ein paar unleserliche Notizen in der Handschrift ihres Vaters. Plötzlich bemerkte ihr Vater sie. Er sprang abrupt aus dem Gartenstuhl auf und stürmte ins Arbeitszimmer. »Schnüffelst du in meinen Sachen, Jennifer?«
»Nein… nein. Ich wollte dir gerade Gesellschaft leisten, Dad.«
Ihr Vater legte Diskette und Notizblock in die Kassette und sagte ungewöhnlich schroff: »Das ist privat! Lass die Finger davon!«
»Ich wollte doch nur .«
»Steck deine Nase nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen.«
Er zog einen silbernen Schlüssel aus der Brieftasche und verschloss die Kassette. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Er war so außer sich wie damals, als Jennifer als Vierzehnjährige von dem Foto auf dem Speicher erzählt hatte.
»Was ist denn los, Dad? Warum bist du so aufgebracht?«
Er legte den Schlüssel in seine Brieftasche zurück und führte Jennifer zur Tür. »Bitte lass mich allein. Ich habe viel zu tun.«
»Dad, ich wollte nur .«
»Wir sprechen ein andermal darüber. Geh jetzt, Jennifer.« Ehe ihr Vater sie aus dem Zimmer drängte und die Tür von innen verschloss, fügte er noch hinzu: »Und schnüffle nie wieder in meinen Sachen herum.«
»Ich wollte doch nur .«
»Nie wieder, Jennifer.«
Einen Monat später wurde ihre Mutter brutal ermordet, und ihr Vater verschwand spurlos.
Sie würde die Nacht, in der es geschah, niemals vergessen. Ihre Mutter hatte sie eingeladen, das Wochenende zu Hause zu verbringen. Jennifer nahm die Einladung dankend an. An jenem Abend flog ihr Vater in die Schweiz. Das Apartment in Manhattan, das Jennifer die Woche über mit einer Kommilitonin teilte, war klein und beengt; deshalb freute Jennifer sich jedes Mal, wenn sie in ihrem eigenen
Weitere Kostenlose Bücher