Projekt Wintermond
Anwältin betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte ein lebhaftes, interessantes Gesicht mit vollen Lippen, dunkelbraunes Haar und glatte, helle Haut. Ihre blauen Augen sprühten vor Intelligenz. Mit ihrem hübschen Gesicht, der schlanken Figur, den langen Beinen und dem festen Busen war Jennifer eine attraktive Frau, die auf Männer wirkte, auch wenn ihre ein wenig abweisende Art den meisten Männern den Mut nahm, sich ihr zu nähern. Es war keine Arroganz, sondern ein Schutzpanzer, den sie sich nach dem Tod ihrer Mutter zugelegt hatte.
Über mangelnde Kontakte konnte sie sich dennoch nicht beklagen. Sie trainierte im Fitnessstudio und ging ab und zu mit ehemaligen Studienkollegen in ein Café, eine Bar oder ein Restaurant. Richtige Freunde hatte sie wenige. Sie wohnte in einer kleinen Mietwohnung und fuhr einen fünf Jahre alten Ford. Mit fast dreißig Jahren war sie noch immer unverheiratet. Und es gab niemanden, den sie liebte.
Vielleicht, weil ich den Richtigen noch nicht getroffen habe.
Aber das war nicht der Grund, und das wusste Jennifer.
Der Beweis war Mark Ryan – falls es überhaupt eines Beweises bedurfte. Jennifer und Mark kannten sich seit ihrer frühen Jugend, als sie Nachbarskinder gewesen waren. Mark war fünf Jahre älter als sie. Jennifer hatte ihn immer sehr gemocht, auch wenn sie seine Einladung zum Essen gerade abgelehnt hatte. Mark war ein charmanter Bursche und ein guter Cop. Ein sympathischer Mann mit Sinn für Humor, den ihm auch seine Scheidung nicht hatte rauben können.
Vor drei Jahren hatten sie sich durch Zufall wieder gesehen. Jennifer studierte Jura, als Mark mit einigen Kollegen zur Columbia Law School gekommen war, um vor den Studenten über polizeiliche Ermittlungsarbeit zu referieren.
Anschließend hatten sie in der Kantine Kaffee getrunken, und Mark erzählte ihr von seiner Scheidung. Damals wirkte er verletzt, einsam und verbittert. Obwohl beide an jenem Tag kein tiefer gehendes Interesse füreinander gezeigt hatten, entstand eine anfangs flüchtige Freundschaft, die sich im Laufe der nächsten Monate festigte. Sie gingen mindestens einmal im Monat essen, und es verging kaum eine Woche, in der sie nicht telefonierten. Sex und Intimitäten gab es zwischen ihnen nicht. Mark war ein guter Freund – vielleicht der beste Freund, den Jennifer je hatte –, aber mehr nicht. Sie mochte ihn und fand ihn anziehend. Doch ihre Furcht, eine zu große Nähe zu einem Mann zuzulassen, saß noch immer zu tief.
Jennifer erinnerte sich an einen Abend vor zwei Monaten. Nach einem Essen bei Spaglio’s hatte Mark sie in ihre Wohnung begleitet. Sie hatten sich unterhalten – und irgendwann hatte Mark sie geküsst. Jennifer hatte seine Berührung, seine intime Nähe sehr genossen, doch als der Kuss inniger wurde und Mark langsam ihre Bluse aufknöpfte, hatte die alte Angst sie überfallen, und sie hatte sich von ihm freigemacht.
Nun warf sie einen weiteren Blick in den Spiegel. Vielleicht bin ich frigide.
Ihre letzte ernst zu nehmende Verabredung lag zwei Jahre zurück. Abgesehen von Mark waren die beiden anderen zwanglosen Treffen mit Männern in den letzten sechs Monaten nach dem gleichen Muster verlaufen. Sobald die Burschen zu intim wurden, beendete Jennifer die Beziehung, ehe sie richtig begann. Die geringste sexuelle Annäherung löste eine Sperre in ihr aus.
Im Grunde hatte sie den Gedanken an Sex bereits aufgegeben. Ein Leben ohne Sex und Zärtlichkeiten war für sie zur Normalität geworden. Jennifer wusste, dass Gespräche und Therapien ihr nicht helfen würden. Die meisten Therapeuten schienen mehr Komplexe und Probleme zu haben als ihre Patienten. Außerdem kannte Jennifer ihr Problem. Es hatte mit dem Trauma zu tun, das sie in der Nacht erlebt hatte, als ihre Mutter gestorben war. Niemals würde sie diesen entsetzlichen Albtraum vergessen.
Heute war der Geburtstag ihrer Mutter. Und Jennifer wollte an diesem Tag nicht alleine sein.
Der Calverton-Friedhof auf Long Island lag an diesem sonnigen Nachmittag einsam und verlassen da. Jennifer parkte ihren Ford und ging mit einem Rosenstrauß zum Grab ihrer Mutter. Die Inschrift auf dem weißen Marmor jagte ihr wie immer kalte Schauer über den Rücken.
In liebendem Gedenken an Anna March Ehefrau von Paul March 1951-2001 Ruhe in Frieden
Es war zwei Jahre her, und doch verging kein Tag, an dem Jennifer nicht an das albtraumhafte Drama dachte, an den Tod ihrer Mutter und das Verschwinden ihres Vaters. Jennifer wünschte sich ihre
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