Promenadendeck
White sei an Herzversagen gestorben. Nach wie vor fand Teyendorf es richtig, daß er im Interesse der Passagiere den Mordverdacht verschwiegen hatte. Es war ja nichts bewiesen, und Schiffsarzt Dr. Paterna hatte selbst zugegeben, daß er sich irren könne. Aber wieso war Mrs. Whites ganzes Geld verschwunden?
Willi Kempen, der I. Offizier, lehnte neben Teyendorf am Schanzkleid und blickte wie er zurück auf die herrliche Stadt. Von weitem wirkte sie noch verzaubernder; da sah man nicht den Schmutz, der langsam, aber stetig von den Hängen, wo die Eingeborenen hausten, in die Stadt hinunterwuchs. Aber so war es überall. Ob in Caracas oder Rio, in Lima oder Cartagena: Von den Armutsvierteln her schob sich das Elend immer weiter in die Stadt hinein. Es wucherte wie eine Pilzkolonie.
»Gott sei Dank, Herr Kapitän!« sagte Willi Kempen. Er sprach damit aus, was Teyendorf dachte. »Das wäre ausgestanden.«
»Vorläufig, mein Lieber.«
»Was kann denn noch passieren?«
»Eine dicke Anzeige wegen Vertuschung eines Mordes.«
»Und wer soll die stellen? Wer soll das wissen außer uns … einer Handvoll Menschen?«
»Wenn Dabrowski den Täter findet, muß er der Polizei übergeben werden. Und dann geht's los!« Teyendorf seufzte. »Aber denken wir heute noch nicht daran, was in Valparaiso passieren könnte.« Sie hatten jetzt die breite Ausfahrt aus der Bucht erreicht und verabschiedeten sich mit einem dreimaligen wuchtigen Dröhnen der Schiffssirene von Acapulco. Die beiden Feuerschiffe antworteten mit ihren hellen Sirenen. »Dabrowski ist gerade dabei, das Videoband vom Vormittag auszuwerten. Wenn er auch beim zweiten Teil der Besatzung nichts Verdächtiges entdeckt, sind die bärtigen Passagiere dran. Das kann noch heiter werden!«
Außerhalb der Brückennock, wo noch eine Aussichtsplattform für Passagiere angebracht war, stand Ludwig Moor, der frühe Ein-Kilometer-Wanderer, und blickte durch ein Fernglas hinüber auf die entschwindende Stadt. Er hatte sie ganz interessant gefunden, wenn ihn auch das Chaos auf den Straßen manchmal gestört hatte. Seinen Urlaub würde er hier nicht unbedingt verbringen mögen, auch wenn er das nötige Geld besäße, um in einem der Hotelpaläste wohnen zu können, von allem abgeschirmt, ein Getto der Reichen. Auf Norderney fühlte er sich wohler, da konnte man noch eins sein mit der Natur und dem Meer. In Acapulco war man nur Bestandteil eines organisierten Rummels, eine Ameise unter Ameisen. Nicht anders würde es in Rio sein; er kannte da viele Bilder von der Copacabana mit dem Menschengewimmel vor der Kulisse des Zuckerhuts. Moor bevorzugte die stilleren Dinge im Leben, so wie er es von seiner Arbeit im Amtsgericht her gewohnt war: Die Grundbuchstelle war eine Oase der Ruhe.
»Ist Mrs. White an Land geblieben?« fragte er Teyendorf. Der Kapitän wandte den Kopf zu Moor und sah ihn fragend an.
»Ich sah heute morgen, daß man ihre Suite säuberte. Da habe ich – man ist ja neugierig, und ich habe noch nie eine Luxussuite gesehen – hineingeblickt. Alles sah so verlassen aus.«
»Ja, Mrs. White ist an Land geblieben. Sie ist beim amerikanischen Konsulat gewesen und will nun kreuz und quer durch Mexiko reisen. Hat es sich anders überlegt. Wir kennen ja die Exzentrik dieser Dame, das ist nichts Neues für uns …«
Ludwig Moor nickte und verließ die Plattform der Nock. Teyendorf sah ihm nachdenklich nach.
»Warum fragt er so dämlich?« sagte er zu Willi Kempen. »Hat er was gesehen?«
»Vielleicht den Abtransport des Sarges …«
»Den haben auch einige andere Passagiere gesehen, aber wir hatten ja eine Erklärung dafür.«
»Man könnte aber auch annehmen, daß er mehr weiß. Wir sollten Herrn Dabrowski von diesem kurzen Gespräch verständigen.«
Während die Atlantis im Sonnenglast der Buchtausfahrt verschwand, stand Claude Ambert am Fenster seines etwas schäbigen Hotels, auf halber Höhe von Acapulco – dort, wo schon die Slums beginnen – und nickte dem weißen Schiff nach. Der dreimalige Abschied mit der Sirene dröhnte bis zu ihm hinauf, und genau wie Kapitän Teyendorf atmete auch er tief auf.
Geschafft. Vorbei. Es würde der perfekte Mord bleiben. Auf einen Elefantendompteur fiel der geringste Verdacht. Jeder an Bord wußte, daß er immer nur bei seinen lieben Tieren gewesen war, den seekranken Riesen. Sie standen nun im Stall des Zirkus Mexico Gloria, der ein Mittelding von Varieté, Zirkus und Kabarett war und wo hoffnungsvolle Sänger ebenso auftraten
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