Promijagd
selbstmörderischer Absicht vor den Zug geworfen hatte, ob er von dem Jungen in Baggy Pants vor den Zug gestoßen worden war oder ob er einfach das Gleichgewicht verloren hatte und auf das Gleis gestürzt war.
»Ohne diesen Knaben werden wir nicht weiterkommen«, sagte Grätz.
»So ist es.« Schneeganß nickte und sorgte per Handy dafür, dass die notwendigen Maßnahmen eingeleitet wurden. Danach machten sie sich auf den Weg, um zu sehen, ob es in Jöllenbecks Kanzlei etwas gab, das ihnen weiterhelfen konnte. Bis zur Aschaffenburger Straße waren es nur ein paar 100 Meter.
Die Anwaltsgehilfin hatte schon erfahren, was geschehen war, und saß wie leblos hinter ihrem Schreibtisch.
»Liegt hier irgendwo ein Abschiedsbrief?«, fragte Schneeganß.
»Nein …«
»Und im Computer war auch nichts?«
»Nein …«
»Ist hier irgendwann einmal ein junger Mann mit diesen Hosen aufgetaucht, die aussehen, als wären sie zehn Nummern zu groß?«, fragte Grätz.
»Nein …«
»Nein …« Grätz konnte nicht anders, als die stimmlose Dame nachzuäffen. »Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, das uns weiterbringen könnte?«
»Nein …«
Typisch Generation Doof, dachte Schneeganß, und nahm einen letzten Anlauf. »Können Sie uns bitte die Adresse von Herrn Jöllenbeck verraten und uns sagen, ob da jemand zu Hause ist. Ist er – war er verheiratet?«
»Nein …«
Immerhin erfuhren sie, dass Jöllenbeck in der Meraner Straße wohnte, gleich auf der anderen Seite des Bayerischen Platzes. Als sie klingelten, öffnete ihnen eine Reinemachefrau, die so chic und polnisch aussah, dass Schneeganß sofort an das dachte, was naheliegend war. Da sie jedoch nicht in Tränen aufgelöst war, konnte davon ausgegangen werden, dass sie von Jöllenbecks schrecklichem Ende nichts erfahren hatte. Sie stellten sich zwar vor, ließen sie aber vorerst im Ungewissen.
»Sie haben Herrn Jöllenbeck gut gekannt?«
»Ja …«
»So gut, dass er Ihnen immer alles erzählt hat, was ihn bedrückte?«
»Ja …«
»Hat er Ihnen gegenüber auch einmal durchblicken lassen, dass er an Selbstmord denkt?«
»Ja …«
»Und da haben Sie ihn dann getröstet?«
»Nein …«
Dieses Nein fiel so sehr aus dem Rahmen, dass Schneeganß Mühe hatte, es zu verarbeiten. »Wie?«
»Er hat nicht wollen, dass ich ihn tröste.«
»Wie das?«, staunte Schneeganß und grinste. »Ich an seiner Stelle …«
»No, er hat lieber Jungen gehabt, wissen Sie.«
6
Hansjürgen Mannhardt hatte von seinem Enkel zum Geburtstag eine Karte für das letzte Heimspiel von Hertha BSC geschenkt bekommen, und nun bestand Orlando auch darauf, dass er am Pfingstsonnabend mit ihm ins Olympiastadion fuhr. Doch Mannhardt hatte keine Lust dazu und maulte.
»Muss ich mir das antun? Das sind doch keine Fußball-, das sind alles Trauerspiele, was die abliefern. Eine Schande für einen Hauptstadtklub, wo die in der Tabelle stehen. Ich mag keine Loser.« Hertha enttäuschte ihn Jahr für Jahr, denn er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ›die alte Dame‹ noch einmal Deutscher Meister wurde. Seit 1931, als man 1860
München im Endspiel 3:2 geschlagen hatte, war das nicht mehr der Fall gewesen.
Allein die Anfahrt zum Stadion erschien ihm so beschwerlich wie nach dem Kriege eine Hamsterfahrt ins Havelland. Fuhr man mit dem eigenen Wagen, fand man keinen Parkplatz, und nahm man U- oder S-Bahn, traf man auf besoffene Fans, die grölten und mit Bierflaschen warfen.
»Am besten, wir sind drei Stunden vor Spielbeginn im Stadion und fahren erst zwei Stunden nach dem Anpfiff wieder weg«, sagte Orlando, als er Mannhardts Bedenken vernommen hatte. »Da solltest du gleich mal an Ort und Stelle mit Dr. Narsdorf drüber reden.«
Mannhardt staunte. »Wieso Dr. Narsdorf, ist der auch da, ist das der Mannschaftspsychiater von Hertha?«
»Nein, der reist sozusagen auf demselben Ticket wie wir beide, das heißt, unser Tennisverein hat drei Dauerkarten gekauft, und wer sich rechtzeitig anmeldet, kann zu Hertha gehen.«
Mannhardt gab sich geschlagen. »Gut, dann gehen wir, Masochismus soll ja was Schönes sein.«
»Treffen wir uns am Bahnhof Westkreuz?«, fragte
Orlando.
»Nein, ich bin doch nicht lebensmüde!«, rief Mannhardt. »Da stehen Tausende, Wände von Menschen, und bei der Drängelei wird man nur auf die Schienen gestoßen.«
»Ja, ich weiß, bei jedem Hertha-Spiel müssen sie die Leichen mit dem Radlader zur Seite schieben, damit die nächste S-Bahn durchkommt.«
Schließlich
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