Promijagd
wissen.
Narsdorf senkte den Blick und starrte auf den Tisch. »Das möchte ich Ihnen nicht sagen.« Mannhardt reagierte darauf etwas unwirsch.
»Somit können wir kaum etwas für Sie tun.«
»Es war die von … von …« Narsdorf sprach um einiges leiser als zuvor. »Von Bernhard Jöllenbeck.« Mannhardt wäre fast aufgesprungen. »Der, der auf dem U-Bahnhof Bayerischer Platz?«
»Ja. Und keiner weiß bis jetzt, ob es nicht doch ein Suizid war. Selbstmord, weil er auch schon erpresst worden ist.«
Mannhardt stöhnte anhaltend. »O Gott, das kann ja heiter werden! Hat der Täter auch die Adressen Ihrer Patienten oder nur ihre Krankengeschichten?«
»Er hat nur meine Notizen, also das, was man früher ins Diktiergerät gesprochen hat und heute schnell selbst in den Computer tippt. Nur den Namen und das Leiden, die Adresse nicht.«
»Dann wird er nach E-Mail-Adressen suchen müssen«, sagte Orlando.
»Oder die Leute direkt aufsuchen«, fügte Mannhardt hinzu. »Das wird ihn einige Zeit kosten. Von Ihnen selbst hat er noch kein Geld haben wollen?«
»Nein, bisher nicht.«
»Und Sie wissen, wer das ist?«
»Ja …« Narsdorf wartete, bis sich der Kellner, der ihnen gerade die Salate brachte, wieder entfernt hatte.
»Ich glaube, dass es mein alter Intimfeind ist, Leon Völlenklee.«
*
Mannhardt und Orlando schlichen in Heikes Kleinwagen durch die Dieffenbachstraße und suchten das Mietshaus, in dem Leon Völlenklee wohnen sollte. Der Hausnummer nach musste es zwischen der Graefe- und der Grimmstraße sein, von der sie kamen. An beiden Ecken gab es ein Restaurant, das eine hieß Rizz, der Namenszug des anderen war nicht so recht zu entziffern: Powolly oder so ähnlich. Ihre Köpfe gingen in schneller Folge nach links und rechts. Eine Bilderrahmung war auszumachen, eine KiezBlüte, ein Ron Telsky, der Canadian Pizza verkaufte, eine Schule in wilhelminischem Backsteinrot, mehrere Läden: back.art, Fisch & Feinkost, Bücher, Künstlerbedarf, und noch ein Restaurant, eines mit dem Namen Honigstein.
»Da ist es!«, rief Orlando.
Sie kurvten eine Weile ums Karree herum, bis sie endlich einen Parkplatz gefunden hatten, und warteten darauf, dass Völlenklee aus dem Haus kam. Dabei hielt Mannhardt ein Foto in der Hand, das jemand bei der Beerdigung von Henning Hanke, Klassenkamerad von Völlenklee und Narsdorf, gemacht hatte. Sie waren hier, weil sie hofften, dass sich Völlenklee auf den Weg zu einem seiner Opfer machen würde. Traf er sich zur Geldübergabe mit einem von Narsdorfs Patienten, wussten sie wenigstens, dass der Arzt mit seiner Annahme recht hatte. Und danach? So intensiv sie über eine geeignete Strategie nachdachten, sie kamen nicht weiter.
»Was soll man machen, wenn der Erpresste aus einsichtigen Gründen nicht bereit ist, zur Polizei zu gehen?«, fragte Orlando.
»Dann bleibt nichts anderes übrig, als den Erpresser umzubringen«, antwortete Mannhardt. »Aber dabei dürfte es nicht so leicht sein, einen perfekten Mord zu begehen, da der Erpresser zu Hause mit Sicherheit all seine Opfer aufgelistet hat, damit jede Mordkommission leichtes Spiel hat.«
»Also ist der Erpresste machtlos, wenn er auf alle Fälle vermeiden muss, dass die Öffentlichkeit etwas von der Erpressung erfährt?« Es war ein Gedanke, der Orlando als künftigen Juristen und womöglich als zukünftigen Staatsanwalt zutiefst empörte.
Mannhardt nickte. »Ja, ist er. Er kann den anderen nur zur Strecke bringen, wenn er sich selbst opfert. Nehmen wir an, einer von Narsdorfs Patienten ist Krankenpfleger und leidet unter der zwanghaften Vorstellung, einem frisch Operierten auf der Intensivstation die Schläuche kappen zu müssen, dann kann er sich, hat er seinen Erpresser auffliegen lassen, auf ein Leben als Dauerarbeitsloser einrichten.«
»Wer es auch immer ist, der Narsdorf-Erpresser ist eine … unwissenschaftlich gesagt: große Drecksau und gehört in den Knast!«, rief Orlando.
Mannhardt griff in eine seiner Schubladen. »Theorie der Rechtfertigungstechniken von Sykes und Matza: Er wird sagen, wie du mir so ich dir, und ich zahle dir nur zurück, was du mir angetan hast. Wobei sein Opfer auch stellvertretend für andere oder die ganze Gesellschaft stehen kann.«
Orlando fasste ihre Diskussion zusammen.
»Solange Narsdorf keinen anderen Beruf ergreifen will, zumindest, solange er seine Praxis nicht aufgeben will, die ja eine Goldgrube ist, kann er gegen seinen Erpresser nichts machen?«
Mannhardt lachte bitter.
Weitere Kostenlose Bücher