Promijagd
sagte Schneeganß. »Denn a) ist Jöllenbeck tot, und b) sind wir nicht von der Boulevardpresse, sondern von der Staatsanwaltschaft geschickt worden, um zu klären, ob Bernhard Jöllenbeck vor die U-Bahn gestoßen worden oder ob er von sich aus gesprungen ist. Es heißt, er sei erpresst worden …«
»Davon ist mir nichts bekannt«, sagte Narsdorf.
»Ist Ihnen aber bekannt, ob er suizidgefährdet war?«, fragte Schneeganß.
»Es ist schwer, in solchen Fällen eine Prognose abzugeben. Er hat in einem ganz bestimmten Dilemma gesteckt …«
»Ja, dass er auf kleine Jungs scharf war!«, platzte Grätz heraus.
Dr. Narsdorf überhörte es. »… und wer in einem solchen Dilemma steckt, ist immer tendenziell suizidgefährdet.«
»Danke, das hilft uns schon weiter«, sagte Schneeganß und wusste in diesem Augenblick selbst nicht, ob es ironisch gemeint war oder nicht. »Nicht auszuschließen ist, dass er von einem jungen Mann vor den Zug gestoßen worden ist. Hat er Ihnen gegenüber da mal eine Bemerkung gemacht?«
»Nein«, antwortete Narsdorf mit Entschiedenheit.
»Ist der Name Richard oder Ritchie irgendwann einmal gefallen?«, fragte Grätz.
»Nein.«
Schneeganß erhob sich. »Wir danken Ihnen, Herr Dr. Narsdorf, dass Sie all unsere Fragen so ausführlich beantwortet haben. Und wenn Sie selbst einmal einen Mord begehen sollten, dann revanchiere ich mich gerne.«
*
Nachdem Schwenz und Dr. Narsdorf abgehakt waren, konnten sie sich auf die Suche nach Richard Immelborn, genannt Ritchie, machen. Da war viel zu telefonieren, angefangen von der Mutter über Kolleginnen und Kollegen in anderen Referaten bis zu Jugendrichtern, Jugendgerichtshelfern und Selbsthilfegruppen. Als das nichts brachte, machten sie sich auf, um alle Punks und Junkies zu fragen, die sie so trafen. Das ging am besten, wenn sie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzten. Ein Dienstwagen war beim Berliner Sparhaushalt ohnehin nicht zu bekommen.
Ihre Zielgruppe zum Sprechen zu bringen, war ein mühsames Unterfangen und Erfolg hatten sie erst, als sie in der Schalterhalle des S-Bahnhofs Frankfurter Allee einen Trebegänger entdeckten, der sich dort mit seinem Hund niedergelassen hatte und wartete, dass man ihm Münzen in die ausgelegte Mütze warf.
Schneeganß kramte einen Euro heraus. »Ich suche den Ritchie.«
»Welchen Ritchie?«
»Richard Immelborn.«
»Ick hab heute noch nischt jejessen.« Schneeganß probierte es mit einem Fünfeuroschein. »Wo also?«
»In eem Bauwagen drinne …« Der Trebegänger nahm den Schein und steckte ihn in die Hosentasche.
»Trinken muss ick aba ooch noch wat.«
Schneeganß machte die nächsten fünf Euro locker.
»In welcher Straße also?«
»Urban.«
»Die Urbanstraße ist lang«, sagte Grätz.
»Jegenüber von det Krankenhaus da.«
Sie bedankten sich und fuhren mit der Ringbahn bis Sonnenallee, um dort in den Bus M41 umzusteigen.
»Metro-Bus – so ein Schwachsinn!«, schimpfte Grätz. »Eine Metro ist eine U-Bahn und kein Bus.«
»Sei doch zufrieden, dass überhaupt etwas in unsere Richtung fährt«, sagte Schneeganß.
An der Haltestelle Körtestraße stiegen sie aus und machten sich auf die Suche nach einem Bauwagen.
»In der Nähe des Urban-Krankenhauses muss man besonders vorsichtig sein«, sagte Schneeganß.
»Wieso denn das?«, fragte Grätz, um gleich darauf selbst die Antwort zu haben. »Klar, wegen: Isch mach dich urban!«
Schneeganß grinste. »Wir haben früher gesagt: Ein Schlag – und der nächste ist Leichenschändung!«
»Du Opfer du!«, ergänzte Grätz.
»Da steht ja unser Bauwagen!«, rief Schneeganß und zeigte zum Nachbarschaftshaus hinüber, einer Art Schlösschen aus früheren Zeiten.
»Den hat offensichtlich einer am ersten Mai vergessen«, sagte Grätz und spielte auf eine Sage aus den alten West-Berliner Zeiten an, als nämlich besonders clevere kleine Unternehmer ihre längst abgeschriebenen und schrottreifen Bauwagen in die Kreuzberger Kampfgebiete gerollt hatten, um sie von den Autonomen anstecken zu lassen und dann saftige Versicherungsprämien zu kassieren.
Schneeganß gab ihm recht. »Kann schon sein. Oder die Firma ist in die Insolvenz gegangen.«
Sie überquerten die Urbanstraße und umkreisten den Bauwagen. Das Firmenschild war abgeschraubt worden, aber die Graffiti-Schmierereien hielten sich in Grenzen. Nachdem sie nichts Auffälliges bemerkt hatten, stieg Grätz die Stufen hinauf und klopfte. Von drinnen kam keine Antwort.
Er drückte die
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